Vom dritten Wiener Gemeindebezirk über Schanghai nach Sydney:
Einmal wöchentlich erzählt Gerty Jellinek als Volunteer Schülerinnen und
Schülern im Jewish Museum Sydney ihre Lebensgeschichte.
Das Schicksal in Form des Nationalsozialismus führte Gerty
Jellinek vom dritten Wiener Gemeindebezirk über Schanghai nach Sydney. Seit
mehreren Jahren erzählt die vitale 83-Jährige jeden Freitag vormittags
australischen Schülerinnen und Schülern im kleinen, aber feinen Jewish Museum
Sydney als eine von zahlreichen europäischen Volunteers ihre Lebensgeschichte.
An einem schulfreien Freitag im Oktober 2007 fand sie Zeit für ein Gespräch mit
DAVID.
Gerty Jellinek entstammt einem kleinbürgerlichen Milieu, die
Eltern waren assimilierte, gläubige, aber nicht orthodoxe Juden. Sie hätten "die
Religion im Herzen getragen", meint Gerty. Die Familie Jellinek – Gerty hatte
noch einen Bruder – ging regelmäßig zum Gottesdienst, wobei die Mutter begierig
war, möglichst alle Synagogen in Wien zu besuchen, weshalb man praktisch jeden
Schabbes in einem anderen Gotteshaus betete. Darunter auch in den Sofiensäle im
dritten Bezirk, welche die israelitische Kultusgemeinde häufig zu den hohen
Feiertagen angemietet hatte, wie Gerty berichtet. Wie vielen Assimilierten
blieben den Jellineks die in der Leopoldstadt lebenden sogenannten Ostjuden
immer fremd.
Mit dem „Anschluss" veränderte sich die Welt der Jellineks
von einem Tag auf den anderen. Lebhaft erinnert sich Gerty daran, wie ihre
Schulkameradinnen unmittelbar nach dem „Anschluss" in Tränen ausbrachen, weil
ihnen ihre Eltern verboten hatten, mit ihren jüdischen Freundinnen zu spielen.
Mit großer Abgeklärtheit entgegnete Gerty ihnen: "Du warst eine gute Freundin –
aber jetzt musst Du tun, was Dir Deine Eltern sagen!" An antisemitische Vorfälle
in ihrer Schule vor dem „Anschluss" erinnert sie sich nicht.
Ihr Vater war zwar ein bewusster Österreicher und stolz
darauf, im Ersten Weltkrieg als Frontsoldat gedient zu haben; unmittelbar nach
dem „Anschluss" aber wollte auch er nur noch auswandern – und zwar um der
Zukunft der Kinder wegen. So hörte er sich eines Abends einen Vortrag über
Australien an, doch zur damaligen Zeit war Amerika sein Traumziel.
In der „Kristallnacht" wurde ihr Vater verhaftet, aber nach
zehn Tagen wieder freigelassen, da die Konzentrationslager zur damaligen Zeit
überfüllt waren. Doch die Erfahrungen in der Lagerhaft hatten ihn, einen mehr
intellektuellen als praktischen Menschen, gebrochen und ihm den Lebensmut
genommen. Von da an war es die Mutter, die "immer schon die Starke gewesen" ist
und die die Dinge in die Hand nehmen musste – so auch die Flucht nach Schanghai.
Das Schanghaier Ghetto
Nachdem die europäischen Großmächte China in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts aus politischen und handelspolitischen Gründen
gewaltsam dazu gezwungen hatte, sich der Welt zu öffnen, ließen sich zahlreiche
Europäer in Schanghai nieder. Die Stadt entwickelte sich zu einem
internationalen, multinationalen, multikulturellen und wohlhabenden
Handelszentrum, in dem sich die europäischen Gemeinschaften selbst verwalteten.
So verfügten sie über eine eigene Rechtssprechung und einen eigenen
Ordnungsdienst – Privilegien, die sie selbst nach der Ausrufung der Republik
behielten.
Hatten sich bis Anfang der 1930er Jahre nur einige hundert
Juden in Schanghai niedergelassen, so strömten nach der Verschärfung der
Judengesetze in Deutschland, und erst recht nach dem „Anschluss", circa 20.000
deutsche und österreichische Juden in die Stadt: Schanghai verlangte nämlich
keine Visa, ja nicht einmal einen Pass für die Einreise. Erst nach dem Angriff
auf Pearl Harbour 1941 war die Einwanderung für Juden nahezu unmöglich geworden.
Die meisten Neuankömmlinge siedelten sich im Stadtteil Hongkou an. Kontakt zu
den bereits bestehenden jüdischen Gemeinden in der Metropole hatten sie kaum –
die kulturellen Unterschiede waren ebenso unüberwindlich wie die materiellen.
Die "traditionellen" jüdischen Einwohner Schanghais
verkörperten keine homogene Gruppe (vgl. dazu den Beitrag von Urs Schoettli in
DAVID Heft 70, September 2006). Nach 1850 waren einige hundert sephardische
Juden eingewandert, meist aus Bagdad via Hongkong kommend, die es dank ihrer
internationalen Handelskontakte zu erheblichem Wohlstand brachten. Reich, aber
nicht ganz so vermögend war die Gruppe von circa 5.000 russischen Juden, die
aufgrund der kommunistischen Revolution aus Russland zuerst in die chinesische
Hafenstadt Harbin geflohen waren, sich nach dem japanischen Vormarsch aber im
sichereren Schanghai niederließen.
Soziale Kontakte zwischen diesen beiden Gruppen und den
Emigranten aus Europa gab es kaum, doch die Wohltätigkeitstradition war auch den
russischen Juden nicht fremd, und so halfen sie ihren europäischen
Glaubensbrüdern immer wieder mit Spenden aus. Auch wohltätige amerikanische
Organisationen, sowohl mit jüdischem als auch christlichem Hintergrund,
unterstützten die hauptsächlich aus Deutschland, Österreich, der
Tschechoslowakei, später Polen und dem Baltikum eingewanderten Juden.
Um das Heimweh etwas zu lindern, errichteten die
österreichischen und deutschen Juden in Schanghai ihr Little Vienna oder Little
Berlin, wo sie heimische Kultur lebten, nicht zuletzt in den Kaffeehäusern. Auch
erschienen zu dieser Zeit Zeitungen in jiddischer, deutscher und polnischer
Sprache.
1941 besetzten die Japaner, die bereits die Mandschurei und
weite Teile Ostasiens kontrollierten, die Stadt – ohne einen einzigen Schuss
abgeben zu müssen. Obwohl sie Alliierte der Deutschen waren, widersetzten sie
sich Berlins Plänen, entweder KZs für die Schanghaier Juden einzurichten oder
diese auf eine dem Untergang geweihte Schiffsreise zu schicken. Dem deutschen
Gesandten, Oberst Josef Meisinger, der 1942 in Schanghai eintraf gegenüber
zeigte sich das zuständige japanische Militär verwirrt: Gestern noch waren die
Flüchtlinge Deutsche, Österreicher, Italiener – heute sollten sie alle einfach
Juden sein?
Mit der nazideutschen Rassenpolitik konnten die Japaner
nichts anfangen. Da sie die Juden nicht als Feinde betrachteten, sich dem
Verbündeten Berlin aber doch verpflichtet fühlten, ergriffen sie
Kontrollmaßnahmen gegenüber den jüdischen Flüchtlingen, wie auch gegenüber
Amerikanern, Franzosen oder Briten.
Gerty erinnert sich heute noch lebhaft daran, wie alle
Schanghaier Juden in das neu errichtete Ghetto einziehen mussten. Einst
wohlhabende Familien gaben ein Vermögen aus, um eine große Wohnung im heillos
überfüllten Ghetto mieten zu können. Es gab zwar keine Mauern, aber ein teils
aus jungen jüdischen Männern bestehender Wachdienst kontrollierte die
Passierscheine, die man vorweisen musste, um das Ghetto zu verlassen, etwa um
die Arbeitsstätte in der eigentlichen Stadt zu erreichen. Einigen, so erinnert
sich Gerty, stieg diese Macht zu Kopfe, und so wurden viele Passierscheine
mutwillig verteilt oder verweigert.
Dank finanzieller Unterstützung durch ihre Verwandten konnte
sich die Familie Jellinek schon kurz nach ihrer Ankunft ein kleines Zimmer
leisten, das als Schlaf-, Wohn- und Kochraum in einem dienen musste. Andere
waren weniger glücklich; sie lebten während ihrer gesamten Zeit in Schanghai in
provisorischen Unterkünften, die jeweils etwa 40 Personen ein Dach über dem Kopf
boten. Lediglich Leintücher, über die Stockbetten gestülpt, verschafften hier
ein Minimum an Privatsphäre.
Die Jellineks hatten großes Glück gehabt, vor Ausbruch des
Zweiten Weltkrieges nach Schanghai abgereist zu sein. Anfang August 1939 hatte
die Familie Wien verlassen, 14 Tage lang hielt sie sich in Genua auf, wo sie
sich am 16. August 1939 einschiffte. Auf der Reise englische Häfen meidend, da
sich an Bord von den Briten als Feinde betrachtete Flüchtlinge aus Österreich
und Deutschland befanden, traf das Schiff am 12. September 1939 in Schanghai
ein.
Für die nächsten neuneinhalb Jahre sollte die Hafenstadt das
Zuhause der Familie Jellinek sein. Gerty lernte hier nicht nur die englische
Sprache – sondern sie lernte auch ihren späteren Ehemann Willy, einen Schneider
und begeisterten Sportler, kennen. Sie fand rasch Aushilfsarbeiten, wusste sie
doch schon als Jugendliche, wie wichtig es war, in diesen schwierigen Zeiten die
Familie finanziell zu unterstützen. Speziell galt dies nach dem Tod des Vaters
1943.
Während des Krieges konnten die jüdischen Flüchtlinge nur die
japanischen Propagandasender empfangen. Zwar hatten einige russisch-stämmige
Juden Zugang zu Informationen aus Moskau, doch ihren Berichten über den
Kriegsverlauf und die Judenverfolgung wurde nicht geglaubt. Nachrichten über den
Holocaust trafen die Schanghaier Juden somit wie ein Schock. Verzweifelt
versuchten sie nach der Befreiung durch die Amerikaner Anfang September 1945
über das Rote Kreuz herauszufinden, ob ihre Verwandten die Judenvernichtung
überlebt hatten.
Die Amerikaner gaben den Juden in Schanghai nicht nur ihre
Bewegungsfreiheit zurück, sondern verschafften ihnen auch Arbeit, brachte die
Armee doch amerikanische Institutionen wie Supermärkte oder Restaurants mit. Die
Emigranten konnten sich hier als Personal verdingen. Gerty kamen ihre
Englischkenntnisse jetzt zugute, und sie fand einen Job als Kassiererin.
Von ihrem ersten Gehalt wollte sie sich sogleich etwas
kaufen, was sie sich so lange Zeit nicht leisten konnte bzw. das während der
Ghetto-Zeit nicht erhältlich gewesen war: Lippenstift und Parfum. Doch ihre
Mutter verbot dies: Von ihrem zweiten Lohn könne sie sich diese Sachen kaufen;
wichtiger sei jetzt für sie, für die Aussteuer zu sorgen. Also kaufte Gerty
Leintücher und schönes Geschirr, das ihr dann noch viele Jahre lang gute Dienste
leisten sollte. Der zweite Lohn reichte dann tatsächlich für die schönen Dinge
des Lebens.
Doch die Amerikaner hatten der jüdischen Gemeinde nicht nur
die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen gegeben; viel wichtiger war für
Gerty, dass die Amerikaner sie als Menschen behandelten. Wohl auch deshalb wäre
die Familie damals lieber nach Amerika ausgewandert. Doch während die Amerikaner
nach dem Krieg für deutsche Juden eine großzügige Einwanderungsquote festgelegt
hatten, so war es für österreichische sehr schwierig, in die USA zu emigrieren.
Eine Rückkehr nach Österreich kam für Gerty ebenso wenig in Betracht wie eine
Auswanderung nach Palästina. Es sollte ein englischsprachiges Land sein, und
wirklich, 1949 öffneten sich dank der guten Kontakte ihres Mannes für Gerty,
ihre Mutter und ihren Bruder das Tor nach Australien.
Neue Heimat Sydney
Es war nicht das gelobte Land, in dem Gerty im Februar 1949
mit ihrer Familie eintraf. Selbst Sydney war damals nicht jene weltoffene,
multiethnische und multikulturelle Metropole, die es heute darstellt. Man habe
sich an das Leben hier, fern von Europa, erst anpassen müssen – was jedoch
gelang. Dabei war sicherlich hilfreich, dass die Jellineks in einem Viertel in
Bronte lebten, in dem sehr viele Freunde und Bekannte aus der chinesischen
Emigration wohnten, die sogenannte Shanghai Community. Nach vier Jahren
erhielten die Jellineks die australische Staatsbürgerschaft.
Insgesamt spricht Gerty sehr positiv über Australien, ja
selbst an die schwierigen ersten Jahre in Sydney erinnert sie sich gerne. Da sie
damals ein Baby erwartete, wurde sie von ihrem Mann und ihrer Mutter nach der
Ankunft fürsorglich umsorgt: "Ich war die Madam!" – und dabei blitzt es in ihren
Augen schalkhaft-fröhlich auf. Und das nicht zum ersten Mal in diesem Gespräch.
Nicht zum ersten Mal merkt man ihr aber auch Trauer an, wenn
sie auf die leidvolleren Passagen in ihrem Leben zurückblickt – speziell, wenn
sie sich an ihren vor elf Jahren verstorbenen Mann erinnert oder an ihren
Bruder, der vor sieben Jahren verstarb. Deutlich spürbar sind dafür Freude und
Stolz, wenn sie über ihre zweisprachig erzogene Tochter Irene, eine
Mittelschullehrerin für Deutsch, und ihr Enkelkind spricht. So etwas wie
Genugtuung hört man, wenn sie erzählt, dass – auch wenn "es lange gedauert hat"
– sie und ihr Mann von der Republik Österreich eine finanzielle Wiedergutmachung
für ihre Zeit im Schanghaier Ghetto erhalten haben.
1990 besuchte Gerty zum ersten Mal nach 1939 wieder Wien.
Dabei traf sie auch zum ersten Mal mit ihrer Cousine zusammen, ihrer einzigen
noch in Wien lebenden Verwandten. Deren Vater, der Bruder von Gertys Mutter, war
mit einer Katholikin verheiratet gewesen; er konnte sich während der
Nazi-Herrschaft verstecken. Die beiden Schwestern der Mutter kamen im Holocaust
um.
2002 folgte Gerty einer offiziellen Einladung nach Wien, und
2004 reiste sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Schanghai, das sich seit den
1940er Jahren aber extrem verändert hat. Im Mai 2008 wird sie, gemeinsam mit
ihrer Tochter, erneut als Ehrengast der Gemeinde Wien in die alte Heimat kommen,
um im Rahmen des Projektes "A Letter to the Stars" als eine von 250 Zeitzeugen
an verschiedenen heimischen Schulen aus ihrem Leben zu berichten. Auf den Besuch
in einer Schule in Niederösterreich freut sie sich besonders, haben sie doch
einige Schülerinnen in einem bewegenden Brief nach ihren Erlebnissen seit den
Dreissiger Jahren gefragt.
Gerty Jellineks Erinnerungen an ihre Jugend in Österreich sind naturgemäß
zwiespältig, doch heute scheint es so, als ob sie sich mit ihrer alten Heimat
ausgesöhnt hätte.