Teil 1
Die Verteidigung gegenüber dem Antisemitismus ist der
vorrangige Zweck des israelischen Staates. Der im bürgerlichen Sinne
revolutionäre Charakter Israels liegt in seinem zionistischen Charakter
begründet, wenn man unter Zionismus insbesondere die Funktion der israelischen
Staatlichkeit für den Schutz aller Juden und Jüdinnen vor Verfolgung versteht.
Diese Funktion drückt sich im von Staats wegen verbrieften Recht auf Rückkehr
aus, im Rückkehrgesetz von 1950. Genau gegen diesen revolutionären Charakter der
israelischen Staatlichkeit richten sich die Bestrebungen der meisten der
sogenannten Post- oder Nicht- oder Antizionisten in Israel. Darin dürfte der
Grund für die europäische Begeisterung für eben diese Post-, Nicht- oder
Antizionisten liegen. Sie bedienen das deutsch-europäische Bedürfnis nach
legitimer, weil von jüdischen Israelis vorgetragener Israelkritik. Zugleich
werden die gewaltsamen Aspekte der eigenen Staaten verdrängt und auf Israel
projiziert. Die „Initiative Sozialistisches Forum" schreibt diesbezüglich ganz
treffend: „Blind für ihr eigenes Gewordensein muss das an Israel denunziert
werden, worin die bürgerlichen Gesellschaften an ihre Robespierres, Franklins
und Lenins gemahnt werden könnten. Weil die Konstitution Israels nicht
abgeschlossen ist (…) erscheinen seine Staatsmänner als Barbaren, wo sie doch
nur Vollstrecker nachgeholter bürgerlicher Revolutionierung sind, und deswegen
gilt Ariel Scharon als Ausbund der Hölle, während er doch nur in die Fußstapfen
eines israelischen Lenin, eines zionistischen Robespierre, eines jüdischen
Benjamin Franklin tritt."1
Diese Analogien lassen sich fortführen. Begreift man Israel
als die bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und Jüdinnen, ist es nahezu
unmöglich, die Begriffe links und rechts in dem Sinne auf die israelische
Gesellschaft anzuwenden, wie es heute gemeinhin getan wird. Wenn man Israel als
revolutionäre Emanzipationsgewalt und als Antwort auf den
Vernichtungsantisemitismus begreift, dreht sich das Verhältnis von links und
rechts geradezu um. In bisherigen Revolutionen galten stets jene als links, die
eine konsequente Verteidigung der revolutionären Errungenschaften propagiert und
praktiziert haben - eine Verteidigung, die aus leidvoller Erfahrung auch den
präventiven Angriff mit einschloß. Rechts hingegen, das waren in revolutionären
Situationen immer die Reformisten, die Kompromißler und die
Verhandlungsbereiten.
In Israel und in der Wahrnehmung Israels ist das bekanntlich
genau anders herum. Als links gilt, wer auf Verhandlungen und Kompromisse aus
ist, im Gegenüber stets einen möglichen Partner sieht und die eigenen Ziele
gerne zugunsten eines Ausgleichs relativiert. Als rechts hingegen gilt, wer
meint, man solle sich keinen Illusionen hingeben, Kompromisse seien stets faul,
man müsse auf die eigene Stärke vertrauen und sich militant zur Wehr setzen -
und zwar auch und gerade präventiv. Mit Hinblick auf den revolutionären
Charakter der israelischen Staatlichkeit wären solche Hardliner in diesen Fragen
(von Wirtschafts- und Sozialpolitik, Homophobie, Familienpolitik,
nationalreligiös motivierter Expansion und Migrationsregime ist hier wohlgemerkt
nicht die Rede) waschechte Linksradikale.
Vor dem Hintergrund einer materialistischen Staatskritik und
im Bewußtsein der Besonderheiten der israelischen Souveränität stellt sich die
Frage, was es bedeutet, im Staat der Shoah-Überlebenden radikale Staats- und
Kapitalkritik zu formulieren. Radikale Linke befinden sich in Israel
offensichtlich in einem Dilemma, das aber nur den wenigsten bewußt zu sein
scheint. Der Normalzustand sollte sein, daß man sich als Staatskritiker gegen
die Ideologie zur Wehr setzt, der Staat seien ‘wir alle’, und die Anmaßung des
Souveräns zurückweist, einem, da man nun einmal lebt, auch noch ein ‘Recht auf
Leben’ zuzuweisen, mit dem die staatliche Gewalt stets demonstriert, daß sie
dieses Recht jederzeit auch entziehen oder relativieren kann. Abstrakt trifft
das auf Israel ebenso zu; Israel aber ist nicht ‘normal’, ist kein ‘Staat wie
jeder andere auch’, sondern die bürgerliche Emanzipationsgewalt von Juden und
Jüdinnen, ein bewaffnetes Kollektiv zur Abwehr des antisemitischen Terrors.
Insofern ist seine Existenz, auch wenn dieses scheinbare Paradox nur wenige in
der radikalen Linken wahrhaben möchten, die Bedingung für radikale Kritik an
Staat und Kapital. Nachdem die politische Emanzipation der Juden und Jüdinnen in
den mehrheitlich nichtjüdischen Gesellschaften nicht möglich war, ist der
Zionismus die zwangsweise seperatistische Verwirklichung dieser politischen
Emanzipation, die Marx schon in seiner Frühschrift Zur Judenfrage als
Voraussetzung der allgemeinen Emanzipation charakterisiert hat.2
Materialistische Kritik muß sich einen Begriff vom Staat im
Allgemeinen machen; dennoch kann die Staatskritik nicht von den jeweils
unterschiedlichen Ausprägungen und Zwecksetzungen staatlicher Herrschaft und
Verwaltung abstrahieren. Es macht einen Unterschied, ob man Staatskritik in
einem Staat formuliert, dessen vorrangige Aufgabe es ist, den "objektiven
Zwangscharakter der Reproduktion"3 zu garantieren, oder aber ob man
Kritik der Politik in einem Staat betreibt, dessen allererster Zweck es ist, die
Vernichtung zu verhindern. Alles, was der israelische Staat in Ausübung seiner
Funktion als ideeller Gesamtkapitalist, als kollektiver Organisator
widerstrebender Interessen, als Herrschafts- und Gewaltinstanz gegenüber seinen
Untertanen, als Moderator der Ressentiments seiner Bürger und Repressionsapparat
gegenüber den auf seinem Territorium lebenden Nichtbürgern, als Organisator der
demokratischen Legitimation seiner Machtausübung und Ideologe des Allgemeinwohls
tätigt, alles also, was dem Materialismus Anlaß und Grund für Kritik liefert,
ist in Israel auf diese Funktion rückbezogen, die außerhalb jeder Kritik steht
und dem Materialismus Anlaß und Grund für emphatische Parteilichkeit ist.
Teil 2
Die antizionistische Linke in Israel stellt die Legitimation
des Staates grundsätzlich in Frage. Die Mehrheit der israelischen Linken hat
jedoch stets versucht, Zionismus und Sozialismus miteinander zu verbinden. Ihre
Vordenker waren Leute wie Nachman Syrkin, der vom jüdischen Proletariat als den
„Sklaven der Sklaven" und als „Proletariat des Proletariats" sprach.4
Die historischen Führer des sozialistischen und links-sozialistischen Zionismus
konnten, wie etwa Ber Borochov, noch die Hoffnung formulieren, daß die jüdischen
und arabischen Arbeiter sich gemeinsam gegen ihre Ausbeutung wehren würden und
so mittels Klassensolidarität die kulturellen Unterschiede überbrücken könnten.
Der linkssozialistische HaShomer HaZair oder auch Brith Shalom traten noch in
den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts für einen bi-nationalen Staat ein. Zum
einen sieht man daran, daß diese Linke von einem starken Idealismus geprägt war,
wohingegen sich die Rechten um den zionistischen Revisionisten Wladimir
Jabotinsky völlig im Klaren darüber waren, daß das jüdische
Staatsgründungsprojekt zwangsläufig zur Konfrontation mit der arabischen
Bevölkerung führen muß. Zum anderen sieht man hier, daß in dieser Frühphase nach
heutigem Verständnis nicht-zionistische Elemente noch Bestandteil der
zionistischen Bewegung waren, wohingegen in der gegenwärtigen israelischen
Gesellschaft die Trennung zwischen zionistischer und antizionistischer Linker
recht eindeutig ist.
Zwischen der antizionistischen und der zionistischen Linken
kommt es in Israel immer wieder zu Konflikten. 2003 waren Reservisten, die zwar
den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern, aber jederzeit bereit sind, das
Land gegen Angriffe militärisch zu verteidigen, und das mittels der israelischen
Fahne auf ihren T-Shirts auch deutlich machen, auf Demonstrationen mit
antizionistischen Sprechchören konfrontiert. Anarchokommunisten, vornehmlich aus
Haifa, fanden es bei der großen Friedensdemonstration vom 15. Mai 2004
angebracht, die Nationalhymne Hatikva durch den Slogan "Zionismus ist Rassismus"
zu stören, und auf der 1. Mai-Demonstration 2004 kam es in Tel Aviv aus dem
gleichen Anlaß zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Ordnern von
Ha’noar Ha’oved Veha’lomed, der Jugendorganisation der Arbeitspartei, und
Anarchisten aus dem Umfeld des autonomen Infoladens Salon Mazal.
Daß solche Kundgebungen stets mit der Hatikva beendet werden
liegt daran, daß es der zionistischen Linken in Israel im Gegensatz zu der
Mehrheit ihrer europäischen Fangemeinde um die Sicherung des Bestandes ihres
Staates geht. Dem durchschnittlichen Linksradikalen sind Nationalhymnen,
einschließlich der Hatikva, natürlich ein Graus. Man kann und will nicht sehen,
daß die israelische Nation und damit zwangsläufig auch der israelische
Nationalismus von anderem Charakter sind als jede andere Nation und jeder andere
Nationalismus.
Die selbst noch im Nationalismus der israelischen Rechten
gegenwärtigen Unterschiede zum Normalfall nationaler Vergesellschaftung will die
Mehrzahl der radikalen Linken in Israel nicht sehen oder nicht gelten lassen.
Repräsentativ für den israelischen, mit dem Antiimperialismus Lenins sowie dem
Antikolonialismus Frantz Fanons und Aime Césaires ausgestatteten
Linksradikalismus ist die mittlerweile aufgelöste „Sozialistische Organisation
Israels", die fast nur unter dem Namen ihrer Monatszeitung Matzpen (Kompaß)
bekannt war. Einige ihrer ehemals führenden Mitglieder wie Michael Warschawski
arbeiten heute im Alternative Information Centre in Jerusalem. Warschawski
charakterisiert das Programm der Matzpen wie folgt: "Die Organisation schlug
eine radikale Kritik des Zionismus vor: im Gegensatz zur traditionellen Linie
der Kommunistischen Partei Israels verstand sie den Krieg von 1948 als ethnische
Säuberungsaktion, nicht als nationalen Befreiungskrieg; sie setzte sich für die
(…) ‘Dezionisierung’ Israels (…) ein".6
Der grundsätzlichen Ablehung des Zionismus steht die
Idealisierung des palästinensischen Nationalismus gegenüber, mit der die
israelischen Linksradikalen stets auch der zaghaften und völlig marginalisierten
Kritik am Antisemitismus innerhalb der palästinensischen Gesellschaft in den
Rücken fallen. Zuletzt hat einer der ehemaligen Helden der grundsätzlichen
Kritiker des israelischen Staatsgründungsprogramms nachdrücklich auf die
Verklärung der nationalen Bestrebungen der Palästinenser hingewiesen: Benny
Morris. Es war dieser frühe Kritiker der zionistischen Gründungsmythen, der
darauf hinwies, daß sich nicht nur viele europäische Beobachter, sondern auch
die radikalen Linken in Israel oft weigern, zur Kenntnis zu nehmen, daß der
Kampf der Palästinenser sich nicht allein gegen die Besatzung in der Westbank
und im Gazastreifen richtet, sondern fast immer auch gegen das israelische
Existenzrecht und gegen all jene Ausprägungen von menschlichem Dasein, die den
religiösen und nationalistischen Jihadisten als Ausgeburt des ‘westlichen
Satanismus’ gelten.7
Die radikale israelische Linke hat in der einen oder anderen
Form die Unterstützung für oder die Sympathie mit dem Kampf der Palästinenser
zum Inhalt. Zentrales Element dieses Kampfes gegen Israel waren aber immer auch
gar nicht emanzipatorische Anwandlungen wie beispielsweise der Haß auf
Ausschweifungen und Freizügigkeit. Dieser Tugendterror begleitet den Kampf der
Palästinenser nicht erst seit der sogenannten Al-Aqusa-Intifada, sondern war
schon in der ersten Intifada Ende der achtziger Jahre integraler Bestandteil des
Aufstands. Der Kampf gegen die Israelis bedeutete auch damals schon, daß alle,
die für die Gesellschaft als schädlich betrachtet wurden, ausgegrenzt und
verfolgt wurden; zum Beispiel alle, die Alkohol trinken und Haschisch rauchen.
Es ging um eine Erneuerung der ‘traditionellen und religiösen Werte’. Die
ausgesprochen propalästinensische Autorin Lätitia Bucaille bemerkt dazu ganz
richtig: „In diesem Punkt treffen sich die nationalistischen und die
islamistischen Bewegungen."8 Die Islamisierung der palästinensischen
Gesellschaft hat bereits während der ersten Intifada begonnen. Diese Entwicklung
hat in der zweiten Intifada ihren sinnbildlichen Ausdruck in der Übernahme, zum
Teil in der Wiederaufnahme der sowohl auf Massenmord als auch auf Demonstration
der eigenen Opferbereitschaft abzielenden Selbstmordattentate durch die zuvor
säkularen Organisationen geführt.
Hinweise auf Derartiges gelten in der radikalen Linken in
Israel bestenfalls als Ablenkung vom Wesentlichen. Gespräche mit israelischen
Linksradikalen über den Konflikt mit den Palästinensern nehmen stets einen
ähnlichen Verlauf. Der Konflikt ist zwar das alles beherrschende Thema, aber der
Antisemitismus in den arabischen Gesellschaften wird weitgehend ignoriert.
Spricht man Aktivisten darauf an, sei es aus dem autonom-anarchistischen, sei es
aus dem marxistisch-leninistischen Milieu, kann man in der Regel das gleiche
Reaktionsmuster beobachten. Anfänglich wird die Existenz eines Antisemitismus
schlicht geleugnet. Gib man sich damit nicht zufrieden, so wird er verharmlost,
mit dem Hinweis auf die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern
rationalisiert oder im Vergleich mit dem antiarabischen Rassismus in Israel
relativiert. Am häufigsten wird er mit dem Hinweis auf die Besatzung
entschuldigt, wobei man sich fragt, was dann der Grund für den arabischen
Antisemitismus vor 1967 war, als es die israelische Besatzung im Gaza-Streifen
und im Westjordanland noch nicht gab. Nicht selten geben jedoch dieselben Leute
nach einiger Zeit zu, daß der palästinensische Judenhaß ein zunehmendes Problem
ist, nur könne es für eine radikale Linke kein Thema sein, da der Antisemitismus
stets vom "zionistischen Establishment" instrumentalisiert werde. So ist es nur
zu verständlich, daß der antisemitische, auf Vernichtung zielende Charakter der
Selbstmordattentate in der radikalen Linken gar nicht zum Thema werden kann.
Bestenfalls lehnt man, wie etwa Ilan Pappe, Politikwissenschaftler an der
Universität Haifa, der den jüdisch-israelischen Diskurs über Araber für den
"real anti-Semitism" hält,9 das Suicide bombing aus militärtaktischen
und politischen Gründen ab und empfiehlt statt dessen, Israel einer ähnlichen
internationalen Ächtung auszusetzen wie einst das rassistische Südafrika.10
Die Verharmlosung und Leugnung des palästinensischen
Antisemitismus kennt kaum Grenzen. Am Global Action Day im September 2004 konnte
man auf einer Kundgebung vor der amerikanischen Botschaft in Tel Aviv
Anarchisten treffen, die darüber Auskunft gaben, daß sie auch gemeinsam mit der
Hamas demonstrierten. Das würde man zwar nicht gerne machen, aber sonst könne
man innerhalb der palästinensischen Gebiete ja gar nicht mehr demonstrieren. Die
Hamas sei auch nur zu „einem sehr kleinen Teil" eine terroristische
Organisation, sie sei „vor allem" eine Wohlfahrtsorganisation, viele ihrer
Unterstützer würden keine Selbstmordanschläge gutheißen, die im übrigen nur aus
Verzweiflung heraus passieren würden. Die Islamisten seien "eigentlich keine
Antisemiten". Und falls doch - der Antisemitismus richte sich ja auch gegen
Araber, die schließlich auch "Semiten" seien. Auch der Antisemitismus vor 1948
sei bereits eine Reaktion auf das zionistische Projekt und daher verständlich,
wenn nicht sogar legitim gewesen. Selbst das Massaker von 1929, dem in Hebron
die nicht-zionistische, mehrheitlich orthodox-religiöse jüdische Gemeinde zum
Opfer fiel, war in den Augen dieser Menschenfreunde nicht „einfach
Antisemitismus", sondern Protest gegen die "zionistischen Kolonialbestrebungen".
Teil 3
Die israelische Linke hatte und hat Anteil an dem Unsinn, den
die Linke weltweit im Hinblick auf das Verständnis von Kapitalismus und
Nationalsozialismus, von Antisemitismus und von den Vorstellungen einer
befreiten Gesellschaft verzapft hat - auch, wenn all das in Israel unter anderen
Bedingungen und in einem anderen Kontext stattgefunden hat als in anderen
Ländern.
Die zionistische Linke war so arbeitsfetischistisch wie kaum
eine andere. Liest man die Haßtiraden der arbeitsamen Kibbutzim auf die
verweichlichten, nur dem Handel und dem Vergnügen fröhnenden Stadtmenschen in
Tel Aviv, so sind die Parallelen zum stalinistischen Arbeitskult und seinen
ressentimenthaften Implikationen ebenso deutlich wie in der Bildsprache des
Arbeiterzionismus, der - allerdings keineswegs allein aus ideologischen Gründen,
sondern aus Gründen äußeren Zwangs, angesichts der Notwendigkeit, in einer
feindlichen Umwelt eine funktionsfähige Ökonomie plus staatlicher Verwaltung
hinzubekommen - das antisemitische Bild vom jüdischen Lust- und Luftmenschen
nicht durch eine Affirmation konterte, sondern durch die Avoda Ivrit (hebräische
Arbeit), durch das Ziel der Schaffung des neuen, arbeitsamen und wehrhaften,
kräftigen und tugendhaften Arbeiters.11
Neben solch traditionsmarxistischem Arbeitsfetischismus
findet und fand sich in der israelischen Linken auch ein Faschismusverständnis,
wie man es aus der marxistisch-leninistischen Theorie kennt. Es war die mal
stalinistische, mal linkssozialistische Mapam, die immer wieder versucht hat,
den spezifischen Begriff des Nationalsozialismus durch einen allgemeinen
Faschismusbegriff zu ersetzen.12 Wie auch bei den Linken in anderen
Ländern war es dann plötzlich nicht mehr die Judenverfolgung, die das
Wesentliche am Nationalsozialismus ausmachte, sondern es ging recht allgemein um
Rassismus und Krieg, wenn vom Faschismus die Rede war. Das ermöglichte es auch
Teilen der israelischen Linken, die legitimen Nachfahren des deutschen
Nationalsozialismus im ‘us-amerikanischen Kryptofaschismus’ auszumachen.
Auch die heutige Verharmlosung, Leugnung und Relativierung
des arabischen Antisemitismus hat in der radikalen Linken in Israel Tradition.
Der aus Marokko stammende Charlie Biton, Mitbegründer der israelischen Black
Panther, ließ 1979 verlautbaren, daß es Antisemitismus in seinem arabischen
Heimatland nicht gegeben hätte, sondern nur in Europa. Das habe daran gelegen,
daß „die europäischen Juden eine Ausbeuterklasse" waren.13 Was die
Verharmlosung des Antisemitismus in den arabischen Ländern angeht, scheinen sich
die Linksradikalen einen regelrechten Wettstreit zu liefern. Gewinnen könnte
diesen zum Beispiel eine Gruppe wie die Mizrahi Front, die in den 80er Jahren so
weit ging, von einer Notwendigkeit des „Respekt(s) gegenüber den arabischen
Ländern" zu sprechen, „die (uns) über Jahrhunderte hinweg Schutz geboten haben".14
Auch die Zusammenarbeit von maßgeblichen Teilen der
palästinensischen Nationalbewegung mit den Nazis wird von vielen Linken
dahingehend verharmlost, daß sie lediglich als taktische Zusammenarbeit
erscheint. Hillel Schenker beispielsweise, früher Herausgeber der
einflußreichen, in der Tradition Martin Bubers stehenden Publikation „New
Outlook" und heute Mitherausgeber vom „Palestine-Israel Journal", spricht von
der „unglücklichen Wahl" Amin El-Husseinis,15 ehemals Mufti von
Jerusalem und einer der übelsten antisemitischen Hetzer, für eine Zusammenarbeit
mit den Nazis. Die Zusammenarbeit resultierte demnach nicht aus ideologischen
Übereinstimmungen, sondern die Palästinenser hätten nach der durchaus typischen
Einschätzung Schenkers lediglich nach dem Prinzip gehandelt: Der Feind meines
Feindes ist mein Freund.
Teil 4
Anders als in den postnazistischen Gesellschaften, in denen
die Israelkritik fast immer eine Form des sekundären Antisemitismus darstellt,
sorgen sich in Israel noch die radikalsten Kritiker des Zionismus ernsthaft um
die Zukunft ihrer Gesellschaft. Selbst jemand wie Warschawski spricht bezüglich
Israel vom „Verfall einer Gesellschaft, die die meine ist" und attestiert dieser
Gesellschaft, in der Vergangenheit trotz aller widrigen Umstände ein
erstaunliches Maß an Zivilisiertheit hervorgebracht zu haben.16
Linksradikale in Israel sind in der Regel nicht von jener moralisierenden
Bösartigkeit getrieben, wie man sie von vielen deutschen oder österreichischen
Linken und aus den Statements der deutsch-europäischen Außenpolitik kennt,
sondern von einem naiven, sich aber durch die Zurückhaltung bei der Kritik an
arabischen Untaten selbst desavouierenden Humanismus, der dem Vormarsch der
antiisraelischen Front durch seinen grenzenlosen Idealismus und seine zwanghafte
wie zwangsläufige Abstraktion von der antisemitischen Bedrohung permanent
Vorschub leistet.
So sehr ein Nachgeben gegenüber dem Antisemitismus seitens
jüdischer Israelis eine reale Gefahr darstellt, so unverzichtbar ist
dieser naive Humanismus innerhalb Israels. Die israelische Gesellschaft braucht
ihre Linke, einschließlich der radikalen. Es liegt in der Natur der Sache, daß
ein großer Polizei- und Militärapparat, auch wenn er einer Gesellschaft durch
die feindseligen Nachbarn aufgezwungen wird, zwangsläufig nicht besonders
menschenfreundliche Praktiken hervorbringt. Schon damit Israel seinem eigenen
Anspruch gerecht wird, ein ‘Licht unter den Nationen’ zu sein, bedarf es der
permanenten gesellschaftlichen Kontrolle von Militär und Polizei. Eine radikale
Linke ist notwendig, da eine gemäßigte Linke immer dazu neigt, über bestimmte
Mißstände zu schweigen. Alleine wegen ihrer objektiven Kontrollfunktion müssen
die Linken in Israel gegen die Angriffe von Rechten und radikalen Rechten, die
ebenso wie die Linken fast obligatorisch ihre politischen Kontrahenten mit den
Nazis vergleichen, verteidigt werden; insbesondere dann, wenn die politischen
Erben der Revisionisten das gesamte Repertoire eines autoritären und
nationalistischen Ressentiments nicht nur der radikalen, sondern auch der
gemäßigten Linken, den Liberalen, in letzter Zeit auch den pragmatischen Rechten
gegenüber aufbieten. Die Heftigkeit dieser Angriffe ist allerdings auch Ausdruck
davon, daß es bei Politik in Israel in der Regel um mehr geht als im politischen
Alltagsgeschäft europäischer Gesellschaften: die Verhinderung einer zweiten
Katastrophe.
Stephan Grigat ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft
an der Universität Wien und gehört zu der Gruppe Café Critique
www.cafecritique.priv.at. Soeben ist im Freiburger ça ira-Verlag sein Buch
„Fetisch und Freiheit – Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die
Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus" (400
Seiten, 22,- Euro) erschienen.
Anmerkungen
1
Initiative Sozialistisches Forum: Go straight to
Hell. In: Phase 2, Nr. 12, 2004, S. 63. Wenn im Folgenden von israelischen
Linken und Linksradikalen gesprochen wird, sind stets jene Leute gemeint, die
sich selbst so bezeichnen und im allgemeinen Sprachgebrauch auch so genannt
werden.
2
Vgl. Marx, Karl: Zur Judenfrage. In:
Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1988 (1844), S. 347 ff.
3
Agnoli, Johannes/ Mandel, Ernest: Offener Marxismus.
Ein Gespräch über Dogmen, Orthodoxie und die Häresie der Realität. Frankfurt/M.
1980, S. 20
4
Zitiert nach Meir, Golda: Mein Leben. Hamburg 1975,
S. 55; Vgl. auch Laquer, Walter: The History of Zionism. London 2003, S. 270 ff.
5
Borochov, Ber: Die Grundlagen des Poalezionismus.
Frankfurt/M. 1969, S. 61
6
Warschawski, Michael: An der Grenze. Hamburg 2003, S.
46
7
Vgl. Morris, Benny: Politics by Other Means.
https://ssl.tnr.com/p/docsub.mhtml?i=20040322&s=morris032204, 03/04 (21. 4.
2005)
8
Bucaille, Lätitia: Generation Intifada. Hamburg 2004,
S. 37
9
Pappe, Ilan: From Anti-Semitism to Anti-Islamisms.
Jewish Israeli Intellectual Perceptions of Anti-Semitism in Europe, 2000-2004.
In: Zuckermann, Moshe (Hg.): Antisemitismus – Antizionismus – Israelkritik. Tel
Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte XXXIII. Göttingen 2005, S. 342
10
Vgl. Pappe, Ilan: Israel must be treated as South
Africa was. Green Left Weekly, September 1, 2004,
http://www.greenleft.org.au/back/2004/596/596p16.htm (12. 1. 2005)
11
Gegen die Versuche, dem Antisemitismus in den
postnazistischen Gesellschaften mit dem Verweis auf die Aufbauleistungen der
Avoda Ivrit in Israel zu begegnen wandte schon Adorno ein: „Entfallen müsste
darum die gesamte Argumentationsreihe, die sich darauf bezieht, daß die Juden in
Israel mit saurem Schweiß das Land fruchtbar machen. Ich bin der letzte, der die
großartige Leistung dort verkleinert. Aber sie ist selber im Grunde nur der
Reflex auf die furchtbare soziale Rückbildung, die den Juden durch den
Antisemitismus aufgezwungen wurde, und nicht zu verabsolutieren, nicht so
darzustellen, als ob der Schweiß an sich etwas Verdienstliches und etwas
Positives wäre." Adorno, Theodor W.: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute.
In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1. Frankfurt/M. 1997 (1962), S. 370
12
Vgl. Segev, Tom: The Seventh Million. The Israelils
and the Holocaust. New York 2000, S. 336 und 436
13
Zitiert nach ebd., S. 397
14
Zitiert nach Shohat, Ella Habiba: Mizrahim in
Israel: Zionismus aus der Sicht seiner jüdischen Opfer. In: Neidhardt, Irit (Hg.):
Mit dem Konflikt leben!? Berichte und Analysen von Linken aus Israel und
Palästina. Münster 2003, S. 92
15
Schenker, a. a. O., S. 103
16
Warschawski, Michael: Mit Höllentempo. Die Krise der israelischen
Gesellschaft. Hamburg 2004, S. 7 und 35 f. Solche Äußerungen unterscheiden ihn
von jenen Gruppierungen wie der AIK, für die er auf Vorträgen in Wien den
jüdisch-israelsichen Kronzeugen spielt.