Spurensuche: Das jüdische St. Pölten
Martha KEIL, Christoph LIND
Als Beilage der Stadtzeitung „St. Pölten konkret" erschien im
Juni 2007 eine „Einladung zu einem ungewöhnlichen Stadtspaziergang", die anhand
von Adressen, Häuserbeschreibungen und Fotos eine Spurensuche nach der
zerstörten jüdischen Gemeinde ermöglichen sollte. Dieser Ausschnitt soll einige
Stationen daraus vorstellen und zu einem Besuch der Landeshauptstadt mit ihrer
vielfältigen, noch heute sichtbaren jüdischen Geschichte ermuntern.
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde St. Pölten
Die ersten Nachrichten von Juden aus St. Pölten stammen aus
der Zeit um 1300: Lesir und Rachel waren gemeinsam mit ihren Söhnen Abraham und
Paltram als Geldleiher tätig.
Im Jahr 1306 kam es unter dem Vorwurf der Hostienschändung zu
einem Aufruhr gegen die St. Pöltner Juden, bei dem einige erschlagen und
ausgeplündert wurden. König Albrecht I. und sein Sohn Rudolf drohten daraufhin,
die Stadt zu zerstören und auf landesfürstlichem Grund in Pottenbrunn neu
aufzubauen. Ein weiteres Pogrom nahm am 23. April 1338 von Pulkau seinen
Ausgang. Über 30 Gemeinden wurden vernichtet, eine hebräische Chronik nennt auch
St. Pölten.
Familie Löw, ca. 1936, Archiv
INJOEST
Nach der von Herzog Albrecht V. 1420 veranlassten Vertreibung
der Juden aus Wien und Niederösterreich siedelten sich erst wieder im 17.
Jahrhundert Juden im Land an und gründeten zahlreiche Gemeinden. In St. Pölten
ließen sich zwar keine Juden nieder, verkehrten aber als Händler in der Stadt.
Im Jahr 1670 wurden die Juden wiederum aus Wien und
Niederösterreich vertrieben und jede Niederlassung verboten. Erst die
Errungenschaften der Revolution von 1848 ermöglichten freie Ansiedlung. Die 1863
gegründete Kultusgemeinde St. Pölten mit einem Einzugsgebiet von Traismauer im
Norden bis St. Aegyd am Neuwald im Süden und von Krummnußbaum im Westen bis
Hadersdorf-Weidlingau im Osten hatte ungefähr 800 Mitglieder, 400 davon lebten
in der Stadt St. Pölten.
Der „Anschluss" im März 1938 brachte den Anfang vom Ende der
St. Pöltner Kultusgemeinde. Juden und Jüdinnen mussten Straßen waschen, ihre
Wohnungen wurden von Nationalsozialisten ausgeplündert. Binnen weniger Monate
nahm ihnen das NS-Regime ihre Existenzgrundlage. Viele flohen bereits im Sommer
und Herbst 1938 ins Ausland oder zunächst nach Wien. Während des
Novemberpogroms, der sog. „Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November
1938, drangen Nationalsozialisten in das Kantorhaus neben der Synagoge ein,
legten Feuer und zerschlugen die Fensterscheiben, doch konnte der Brand gelöscht
werden. Einige Stunden später versammelten sich vor dem Gebäude 300 bis 400
Personen, teils in Uniform, teils in Zivil und zerstörten den Innenraum
vollständig. Auch den Davidstern rissen sie von der Kuppel; er fehlt bis heute,
wie auch alle Ritualgegenstände. Ein Gebetbuch, während des Pogroms aus dem
Feuer geholt, wurde 1998 an das Institut für Geschichte der Juden in Österreich
übergeben und befindet sich, zusammen mit einem Fensterfragment, in einer
Vitrine in der Synagoge. Mit einer Gedenkinstallation mit Fotos und Namen der
Ermordeten erinnert es an die zerstörte Gemeinde.
Stationen vernichteten jüdischen Lebens
Kaufhaus und Villa der Familie Leicht, Kremsergasse 33;
Parkpromenade 14
Albert Leicht gründete sein erstes Geschäft 1887 in der
Rathausgasse. In den 1890er Jahren bot sich ihm die Möglichkeit, in der
Kremsergasse 33 ein Lokal zu erwerben. Dieses neue Geschäft erlebte einen
bemerkenswerten Aufschwung und war bald das größte Modehaus am Platz. Albert
Leicht engagierte sich auch intensiv in der jüdischen Gemeinde, wurde 1910 zu
deren Vorsteher gewählt und übte diese Funktion bis 1938 aus.
Nach dem „Anschluss" wurde die Familie Leicht aus der Villa
an der Parkpromenade 14 delogiert. Albert Leichts Sohn Robert, dessen Frau Irma
und ihre Tochter Elisabeth emigrierten in die Vereinigten Staaten und Tochter
Luzy entkam nach Palästina. Die dritte Tochter Käthe wurde vermutlich auf der
Flucht gefasst, deportiert und ermordet.
Albert Leicht starb am 17. Juni 1939 in St. Pölten und liegt
auf dem jüdischen Friedhof der Stadt begraben. Seine Witwe Rosalia
zwangsübersiedelte am 3. Juli 1939 nach Wien, wurde 1942 vom jüdischen
Altersheim in der Seegasse aus nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.
Robert Leicht erhielt 1947 das „arisierte" Kaufhaus und die
Villa restituiert.
Geschäft und Wohnung der Familie Löw, Rathausgasse 10
Hermann Löw war Uhrmacher und Juwelier. Da Jüdinnen und Juden
bis Ende Februar 1939 ihren gesamten Schmuck und ihre Wertgegenstände aus
Edelmetallen oder Edelsteinen zum Verkauf anbieten mussten, wurde ein
Buchrevisor vom Kreiswirtschaftsamt der NSDAP mit der Restabwicklung von Löws
Vermögen beauftragt. Dieser begleitete Hermann Löw in die offizielle
Goldablieferungsstelle in St. Pölten, das Dorotheum.
Zeremonienhalle, renoviert 2000 Foto: H. Pechhacker
Die 15jährige Tochter Edith floh am 12. Juli 1939 nach
Palästina. Über den Abschied von ihren Eltern schrieb sie 1998 lapidar: „Eltern
begleiteten mich zum Bahnhof – schlimmste Erinnerung". Hermann und Irma Löw
zogen am 19. Oktober 1939 nach Wien. Sie wurden am 20. Mai 1942 nach Minsk
deportiert und ermordet.
Wohnung der Familie Willner, Linzerstraße 1
Dr. Leo Willner promovierte 1906 in Wien, arbeitete dort im
Stephanie-Spital und war ab 9. September 1912 Facharzt für Gynäkologie in St.
Pölten. Seine nichtjüdische Frau Franziska lernte er noch in Wien kennen.
Tochter Olga erzählte, dass ihre Eltern mit der Heirat warteten, bis Leo Willner
„eine Praxis aufmachen konnte. Und da wurde ihm St. Pölten oder Amstetten
angeboten, und er hat dann St. Pölten genommen." Im Ersten Weltkrieg diente Dr.
Willner in der k. u. k. Armee und wurde mit dem Franz-Josefs-Orden
ausgezeichnet. Die einzige Tochter Olga kam 1920 zur Welt.
Am 15. März 1938 wurde Dr. Willner als Facharzt der
Kreiskrankenkasse St. Pölten vom Dienst suspendiert und bezog nun weder als
Kassenarzt noch aus seiner Privatpraxis ein Einkommen. Am 3. August 1938
übersiedelte er mit Frau und Tochter nach Wien.
Dr. Willner wurde im Zuge des Novemberpogroms verhaftet, kam
aber unter der Auflage frei, bis 31. Dezember 1938 das Land zu verlassen. Es
gelang ihm, für den 4. Jänner 1939 Schiffskarten nach Shanghai zu erwerben. Frau
und Tochter folgten später nach und die Familie traf sich in China wieder. Von
April 1939 bis August 1940 arbeitete Dr. Willner im Missionshospital Yenchow. Am
30. Juli 1947 starb er auf der Rückreise nach Europa an Bord eines
UNRRA-Schiffes im Indischen Ozean. Franziska und Olga Willner kehrten nach
Österreich zurück.
Zeugen religiösen Lebens
Ehemalige Synagoge; Dr. Karl Renner-Promenade 22, Eingang
Lederergasse 12
Die St. Pöltner Juden hielten ihre Gottesdienste zunächst in
einem als Bethaus adaptierten Raum der damaligen Gasser-Fabrik ab. Von 1885 bis
1913 diente ein Gebäude an der Dr. Karl Renner Promenade, westlich des jetzigen
Standorts, als Synagoge. Ab 1888 waren Mitglieder der Kultusgemeinde um einen
Neubau des Gotteshauses bemüht, ein Tempelbauverein konstituierte sich am 7.
April 1907. Am 20. Juni 1912 wurde nach den Entwürfen der Architekten Theodor
Schreier und Viktor Postelberg mit dem Bau begonnen und am 17. August 1913, dem
Vorabend des Geburtstags von Kaisers Franz Josef, fand die feierliche Eröffnung
statt.
Nach dem Novemberpogrom diente das Gebäude als Möbellager.
Die Nationalsozialisten planten, die Synagoge „auf Kosten des Judenkapitals"
abzureißen, das Kantorhaus zu renovieren und an eine Gliederung der Partei
abzutreten. Vermutlich deshalb zog im Mai 1940 die SA-Standarte 21 in das
Kantorhaus ein.
Im Jahr 1942 diente die Synagoge als Auffanglager für als
Zwangsarbeiter eingesetzte „russische Zivilpersonen". 1945 wurde das Gebäude
zusätzlich durch Bombenangriffe beschädigt, sodass sich sein baulicher Zustand
weiter verschlimmerte. Nach Kriegsende diente es als Möbellager,
Getreidespeicher und Taubenschlag. Das Kuppeldach zeigte schwere Schäden und
einzelne Bauteile drohten einzustürzen. Durch die demolierten Fenster drangen
Regen und Schnee in das Gebäude ein. Nach Abrissplänen Ende der 1970er Jahre
stellte das Bundesdenkmalamt das Bauwerk unter Denkmalschutz. Von 1980 bis 1984
wurde die Synagoge soweit wie möglich originalgetreu renoviert und dient nun als
Gedenkstätte. Im Kantorhaus befindet sich seit 1988 das Institut für Geschichte
der Juden in Österreich. Der Synagogenraum ist wochentags zwischen 8.30 und
15.30 zu besichtigen (Eingang Lederergasse 12).
Der jüdische Friedhof
Der alte jüdische Friedhof der Stadt wurde 1859 am
Pernerstorferplatz angelegt. Auf ihm steht heute nur noch ein Gedenkstein, da
sämtliche Grabsteine von den Nationalsozialisten verschleppt wurden. Der neue
jüdische Friedhof entstand 1906 im Anschluss an das Areal des Stadtfriedhofs und
wird heute noch belegt. Die repräsentative Zeremonienhalle wurde vom
renommierten St. Pöltner Architekten Rudolf Wondracek sen. errichtet und im Jahr
2000 renoviert.
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