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Juden und Jazz
Von der Tin Pan
Alley zur „Downtown"-Szene
Domagoj AKRAP
Das größte Geschenk des zwanzigsten Jahrhunderts, das Amerika
Europa auf dem Gebiet der Musik überreicht hat, ist zweifellos der Jazz. Und
obwohl der Jazz allen voran die Musik der schwarzen Amerikaner war, lässt sich
in seiner Geschichte von Anfang an ein beachtlicher Beitrag von weißen Musikern
beobachten.
In einer Zeit als Rassismus und Rassentrennung in den
Südstaaten zum Alltag gehörten und von der weißen Mehrheitsbevölkerung auch noch
kaum angezweifelt wurden, spielten in den diversen Jazz-orchestern und Bands
Schwarze und Weiße oft gemeinsam. Ein beträchtlicher Teil dieser weißen
Jazzmusiker war jüdisch. Diese waren Kinder jüdischer Einwanderer aus Osteuropa,
die seit den 1880-ern in Scharen vor Armut und Verfolgung flüchtend in die USA
strömten, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten und der Freiheit. Soziologisch
betrachtet waren die Juden eine Einwanderergruppe unter vielen und ihr Schicksal
glich dem der Italiener, Iren und anderen Neuankömmlingen. Trotzdem scheint sich
ein besonderes Nahverhältnis zwischen der schwarzen Musik, dem Jazz, und den
Juden bald entwickelt haben.
Einer, der mit einem Fuß im Jazz und mit dem anderen am Boden
der Klassik stand, war George Gershwin (1898 – 1937), Sohn russisch-jüdischer
Einwanderer, der seine Karriere in der berühmten Tin Pan Alley begonnen hat.1
Mit seinen Songs hat Gershwin unzählige Grundlagen für Jazzimprovisationen
beigesteuert, man denke nur an Embraceable You, Somebody Loves Me, I Got
Rhythm oder das unvergessliche Summertime, das Dutzende von
Jazzmusikern bis heute immer wieder aufs Neue zu gewagten Improvisationen
herausfordert. Seinen eigentlichen Durchbruch im Bereich des Songschreibens
verdankt Gershwin dem Sänger und Filmschauspieler Al Jolson (eigentlich Asa
Yoelson; 1886 – 1950). Jolson war es, der 1920 Gershwins Song Swanee (der
übrigens Anleihen einer jüdischen Volksmelodie beinhaltet) auf Schallplatte
aufgenommen hat und damit den größten Hit für den erst einundzwanzigjährigen
Gershwin lieferte.2 Von
nun an wurde Gershwin weit über die Grenzen New Yorks und der Tin Pan Alley
berühmt, und sein steiler Karriereaufstieg konnte beginnen. Jolson selbst wurde,
anders als Gershwin, noch in Schradeck im Kurland (heute Srednik, Bezirk Kaunas,
Litauen) als Kantorensohn geboren. Mit neun Jahren kam er in die USA, wo er
bereits als Jugendlicher auf der Bühne stand. In der Zwischenkriegszeit
avancierte er sogar zum bestbezahlten Entertainer in den USA. Ein Kuriosum sei
hier im Zusammenhang mit Jolson erwähnt – ein Gutteil seines Erfolgs beruhte auf
seinen Darbietungen in den „Blackface Comedies", bei denen er sein Gesicht mit
schwarzer Gesichtsfarbe bedeckte. So kam es, dass ein „amerikanischer Litvak"
auf der Bühne zum Inbegriff des Afroamerikaners wurde. Diese Geschichte kann als
Beispiel einer Symbiose zweier „Paria-Gruppen" dienen, die beide ihren Platz in
der amerikanischen Gesellschaft noch erringen mussten. Das Showbusiness war das
bisweilen einzige Tor, durch das der Weg hinauf führte, um sich einen Platz
unter der Sonne zu sichern. Das Engagement vieler Juden in der
Unterhaltungsmusik, und hier besonders im Jazz, war sicher auch durch den Wunsch
bedingt, dazu zu gehören und Amerikaner zu sein. Im Endeffekt war es ein Weg zur
Assimilation. So ließe sich wohl auch erklären, warum in der Swingmusik eines
Benny Goodman so wenig jüdische Melodien zu finden sind, oder weshalb Mitglieder
seines Orchesters bedacht waren, ihre jüdische Wurzeln zu verbergen, so dass
manche ihre „zu jüdisch klingenden" Namen geändert oder zumindest gekürzt haben.3
Neben Goodman, dem „King of Swing", war damals eine ganze Reihe prominenter
Jazzmusiker jüdischer Abstammung aktiv, so zum Beispiel Woody Herman und Artie
Shaw. Die Frage, warum sie sich so stark von der afroamerikanischen
Musiktradition angezogen fühlten und allmählich immer stärker mit dieser
identifizierten, wurde mehrmals zu beantworten versucht. War es die starke
Affinität zwischen schwarzer und jüdischer Musik? Oder waren es die bitterlichen
„cries" der Schwarzen, die von den Juden besser gehört werden konnten als
von den übrigen Weißen, weil sie damit ihr eigenes Los der Verfolgungen über die
Jahrhunderte verbinden konnten? Die gemeinsame Erfahrung von Verfolgung und
Demütigung dürfte gewiss eine Rolle gespielt haben. Eine vollständige Erklärung
dafür bietet sie aber nicht. Hans-Jürgen Schaal, Biograph von Stan Getz
(eigentlich Stanley Gayetzky), glaubt gar, die Jazzrichtung des Cool Jazz, die
in den frühen 50-ern an der Westküste (daher auch „westcoast jazz"
genannt) aufkam und hauptsächlich von Weißen getragen wurde, auf das Trauma des
Holocaust zurückführen zu können. Ein Cool-Jazz-Saxophonist bot kein Vorbild
mehr für die anti-jüdische Karikatur. Er versteckte sich in westlicher
Sublimierung, der Maske der Normalität, oder in kühler Moderne, der Maske des
Zeitgemäßen. Er tauchte heimatlos unter im Unscheinbaren.4
Ein bewusster Rückzug, eine Verinnerlichung, um nicht in der Gesellschaft
aufzufallen oder gar anzuecken, würde dem amerikanischen Mainstream der
Nachkriegszeit entsprechen. Diese Spekulationen lassen sich naturgemäß nicht
beweisen und bleiben daher nur Erklärungsversuche.
Das selbst auferlegte Schweigen der jüdischen Musiker war
frei gewählt und blieb bis in die späten 80-er aufrecht.5
Nun änderte sich das Verhalten vieler jüdischer Jazzmusiker. Im Zuge der neu
aufkommenden „Ethnicity", die im Bereich des Jüdischen im Klezmer Revival
ihren Ausdruck fand6,
wandten sich immer mehr Jazzmusiker dieser Musiktradition zu, um von ihr zu
lernen. Auf diesem Umweg machten sie Bekanntschaft mit der Musik ihrer
Großeltern, deren Ursprünge im osteuropäischen Shtetl lagen. Dabei ging es nicht
um eine kritiklose, mit Nostalgie erfüllte Übernahme einer alten Musiktradition,
deren soziales Umfeld durch die Shoah vernichtet und somit in ihrer alten Form
gar nicht mehr wieder zu beleben war. Die neuen Musiker wollten keine „Musikmuseologen"
sein, sie hatten die alte Tradition radikalisiert und auf ihrem Hintergrund mit
neuen musikalischen Mitteln experimentiert, um sie schließlich als angemessene
musikalische Antwort für das 21. Jahrhundert anzubieten. Diese Synthese von
Klezmerklängen mit neuen Elementen aus dem Jazzreservoir führte zur Entwicklung
eines nicht klar einzugrenzenden „Klezmer-Jazz".
Die in New York Ende der 80-er Jahre entstandene Szene für
experimentelle Musik ist unter der Bezeichnung „Downtown Jazz" bekannt geworden.
Ihr gehörten Musiker wie John Zorn, Uri Caine, Don Byron, Marc Ribot, Joey Baron
oder Bobby Previte an. Die meisten der Protagonisten der Szene sind jüdischer
Abstammung, die sich nun, durch das Klezmer Revival bestärkt, von der
Musiktradition des Shtetls inspirieren ließen und diese zum Motor der Erneuerung
ihrer eigenen Musik machten. Dieses Zurückblicken wirkte auch identitätsbildend
auf die Musiker selbst. Das bestimmende Element für ihre Improvisationsmusik
sind nicht mehr die afroamerikanischen Wurzeln, sondern die eigenen jüdischen –
„und dann fanden wir dieses Sache, die cool war, und sie hatte so viel
Funkiness wie der Blues oder die andere schwarze Musik, die wir zu stehlen
versuchten."7 Ben
Goldberg drückt die paradoxe Situation überspitzt aus: Klezmer eröffnet mir
einen Weg, den Blues zu spielen, ohne den Blues zu spielen. John Zorn war
die treibende Kraft und Initiator der 1992 ins Leben gerufenen „Radical Jewish
Culture". Der Saxofonist und Bandleader veröffentlichte im selben Jahr im Rahmen
des Münchner „Art Projekt" – Festivals ein Manifest, in dem er eine radikale
neue jüdische Kultur forderte und das Jüdisch-Sein als Infragestellen, als
Kultur, die sich allein durch ihre Nichtzugehörigkeit definiert, schilderte. Im
Beiheft zu seiner CD Kristallnacht (1993) schreibt Zorn: „Der Jude ist
immer am Ursprung einer doppelten Infragestellung gewesen: der Infragestellung
des Selbst und der Infragestellung des „Anderen" … Es mag paradox scheinen, doch
es ist genau in jenem Bruch – in jener Nichtzugehörigkeit auf der Suche nach
Zugehörigkeit -, dass ich zweifellos am jüdischsten bin".8
Die CD Kristallnacht ist eine der ersten Veröffentlichungen des Tzadik
Labels. Bereits die Covergestaltung wirkt verstörend – ein gelber Davidstern mit
der Aufschrift „Jude" auf schwarzem Hintergrund. In sieben Songs geht Zorn den
Erfahrungen aus der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert nach, vom Shtetl,
über die Shoah bis hin zur Staatsgründung Israels. Eine musikalische Reise die
atonale und experimentelle Töne mit altvertrauten jüdischen Melodien verbindet.
Neben Zorn wirkten Vertreter der Downtownszene wie Anthony Coleman, David
Krakauer, Frank London und Marc Ribot bei der Aufnahme mit.
Das Außenseitertum war das Faszinierende für Zorn, von diesem
Blickwinkel her versteht er seine radikale jüdische Kultur. Er grenzt sich
sowohl vom Mainstream amerikanischer Kultur, wie auch von dem der jüdischen
Orthodoxie ab, das „Shtetl ist längst im global village
angekommen".9 Einen
wesentlichen Beitrag für die Entwicklung und Verbreitung der radikalen jüdischen
Musik leistete Zorn 1995 mit der Gründung seines eigenen Labels Tzadik
(dt. der Gerechte). Das Label umfasst mehrere Serien, eine davon ist mit „Radical
Jewish Culture" betitelt, ihr programmatisches Motto kann zusammengefasst werden
als – Jewish music beyond klezmer: adventurous recordings bringing Jewish
identity and culture into the 21st century.10
Hier soll jüdischen Künstlern aus dem Bereich des Jazz, der experimentellen
Musik und der Avantgarde die Möglichkeit gegeben werden, ihr eigenes
Jüdisch-Sein musikalisch auszudrücken. Dabei wird der entscheidenden Frage
nachgegangen, ob jüdische Musik ohne Verbindung zu Klezmer, liturgischer Musik
und jiddischem Theater existieren kann. Ein Blick auf den Katalog der
veröffentlichten CDs erlaubt uns eine eindeutige Antwort zu geben – ja!
Mittlerweile sind über 100 Alben für die Reihe „Radical Jewish Culture" bei
Tzadik aufgenommen worden, die ein musikalisches Zeugnis abgeben, das weit
über Klezmer hinausgeht und, das die Breite dessen aufzeigt, was zu Beginn des
21. Jahrhunderts als jüdische Musik verstanden werden kann.
Eine der interessanten „Blüten", die das Klezmer Revival
hervorgebracht hat, ist die Interpretation der Musik von Mickey Katz durch den
afroamerikanischen Klarinettisten Don Byron.11
Hatten in den 30-ern Juden die afroamerikanische Tradition interpretiert und
verinnerlicht, um dazu zu gehören, so hat sich 1993 ein Afroamerikaner getraut,
über jiddische Songs zu improvisieren, weil er sie als Teil amerikanischen
Musikerbes betrachtete. Hier sei erwähnt, dass die jüdischen Musiker nicht nur
Jazz mit traditionellen jüdischen Melodien verbanden. Auch klassische Musik
konnte als Anregung für neue Interpretationen und Ideen dienen. So
veröffentlichte der Pianist und Keyboarder Uri Caine 1997 die CD Primal Light
/ Urlicht, in der er Lieder und einzelne Symphoniesätze Gustav Mahlers mit
Jazz- und Klezmerklängen verband und in neuer Instrumentierung darbot. Die
Texte, die gelegentlich eingeschoben werden sind entweder der jüdischen Liturgie
entnommen oder neu gedichtet und nehmen Bezug auf Erfahrungen aus der jüdischen
Geschichte.12
Schließlich gibt uns der Trompeter Paul Brody eine schöne
Antwort auf die Frage, was denn eine radikale jüdische Kultur sei, nämlich, „dass
ich an den jüdischen Feiertagen genauso gerne arabisches Essen für meine Kinder
koche wie jüdisches. Dass für mich Falafeln genauso auf den Tisch gehören wie
Matze-Brot."13 Es
ist genau diese Interaktion zwischen den Kulturen, die die Musikentwicklung und
hier besonders die des Jazz am Anfang des 21. Jahrhunderts so spannend macht.
1 Vgl. Krellmann, Hanspeter: George Gershwin mit
Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1988, S. 17ff. Tin Pan Alley
bezeichnete einen Straßenzug in der 28. Straße zwischen Broadway und 5th Avenue,
wo in der Zeit um den ersten Weltkrieg die meisten Schlagermelodien entstanden
sind. Zu den wichtigsten Komponisten der Tin Pan Alley gehörten: Irving Berlin,
Jerome Kern und Oscar Hammerstein. Sie alle waren, wie Gershwin, jüdische
Einwanderer und schrieben Melodien, die sich im Jazz großer Beliebtheit
erfreuten.
2 S. ebenda, S. 28f., sowie Wilson, Peter Niklas: Jazz und
„jewish roots", in: John, Eckhard / Zimmermann, Heidy (Hg.): Jüdische
Musik?, Böhlau 2004, S. 259.
3 Als Beispiel kann Ziggy Elman, eigentlich Finkelman,
genannt werden, der jahrelang Trompeter in der Band Benny Goodmans war.
4 S. Schaal, Hans-Jürgen: Stan Getz. Sein Leben, seine
Musik, seine Schallplatten, Waakirchen 1994, S. 128, zit. nach: Wilson,
Peter Niklas, S. 264.
5 Eine Ausnahme bildete Herbie Mann, der 1971 die israelische
Nationalhymne Hatikva als Basis für die Arrangements für seinen Song
Man’s Hope auf dem Album „Push push" verwendete.
6 Die Band Klezmatics, eine der frühen Bands im Klezmer
Revival, veröffentlichte ihr erstes Album Shvaygn = Toyt im Jahre 1988.
7 Der Pianist und Keyboarder Anthony Coleman über die
positiven Auswirkungen des aufkommenden Klezmer Revivals. S. Wilson, Peter
Niklas, S. 266, sowie Berendt, Joachim-Ernst / Huesmann, Günther: Das Jazzbuch,
Fischer 2005, S. 79.
8 Zit. nach Wilson, Peter Niklas, S. 267.
9 Berendt / Huesmann, S. 241.
10 S. die Homepage: http://www.tzadik.com/ unter Radical
Jewish Culture.
11 Don Byron plays the music of Mickey Katz ist 1993
auf Elektra erschienen.
12 Ein gutes Beispiel dafür ist die Interpretation von „Der
Abschied" aus Mahlers „Lied von der Erde" auf der CD: Uri Caine
Ensemble: Gustav Mahler in Toblach, Winter & Winter 1999.
13 S. Berendt / Huesmann, S. 80f.
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