An der Ecke zur Tempelgasse gab es eine Bäckerei. Als
Heimbewohner mit Familie tat man gut daran, jene Bäckerei hin und wieder bei
Einkäufen zu berücksichtigen, und zwar aus folgendem Grund: Viele der Frauen
waren aus Vorkriegszeiten daran gewöhnt, selbst zu backen. Im Heim gab es dafür
keine Möglichkeit. Sowie das Angebot der Lebensmittelgeschäfte an Zutaten wie
Vanillinzucker oder Backpulver größer wurde stieg der Drang zum Selbstbacken.
Deshalb war es von großem Vorteil, vom Bäcker selbst oder von dessen Frau als
Kunde identifiziert zu werden. Eine Heimkundin fragte den Bäcker eines Tages, ob
er ihr so gefällig wäre, einen von ihr gefertigten Teig, den man auf einem Blech
zu ihm bringen würde, in seinem Ofen gegen Bezahlung mitzubacken? Obschon er für
diese Gefälligkeit einen Obolus verlangte, willigte er mürrisch ein. Brachte man
das Blech zu ihm, nannte er eine Zeit, zu welcher man das Backwerk abholen
konnte. Dass hernach eine Seite ziemlich angebrannt war, musste man, wollte man
wieder kommen, geflissentlich übersehen. Die Ware war immer angebrannt.
Dorothea, die mittlerweile ebenfalls dazu übergegangen war, Kuchen selber zu
fertigen und den rohen Teig auf einem Blech von Hans zum Bäcker bringen ließ,
ärgerte sich regelmäßig, und mehr noch darüber, nicht reklamieren zu dürfen. Es
hatte nämlich den Anschein, als ließe der Bäcker, aus Ärger darüber, dass man
Kuchen nicht gleich bei ihm bestellte, die mitgebrachte Ware absichtlich
anbrennen.
Schräg gegenüber der Bäckerei, ebenfalls in der
Ferdinandgasse, befand sich ein Kolonialwarenladen. An dessen Eingang waren
links und rechts ziemlich große emaillierte Reklametafeln angebracht, auf denen
Namen der Waren aufgelistet standen, die man einst regelmäßig, heute aber der
misslichen Lage wegen gar nicht oder bis auf weiteres nicht mehr kaufen konnte.
Trat man in den Laden, dessen Inneres auch bei Tageslicht dunkel und düster war,
umhüllte einen sofort eine süßliche, gewürzschwere Mischung unterschiedlichster
Gerüche. Reis, Gries und verschiedene getrocknete Hülsenfrüchte wurden aus auf
dem Boden stehenden Jutesäcken, aber auch aus anderen Behältnissen dargeboten.
Je nachdem, in welchem Teil des Ladens man sich gerade befand, roch es aber auch
nach Petroleum, Schmierseife und anderem. Den Laden betrieb eine ältere, allein
stehende Frau, deren Aussehen jener herrlichen von Wilhelm Busch kreierten Figur
der Witwe Bolte sehr nahe kam. Julius Meinl, die bekannteste, alteingesessene
Delikatessenfirma war ebenfalls in der Praterstrasse präsent. Bis Ende der
Vierzigerjahre war das Einkaufen in diesem Laden aber nur jenen vorbehalten, die
Geld besaßen. Selten kam es vor, dass auch Dorothea dort einkaufen ging. Bei
Meinl war alles frischer, exklusiver, schöner aber auch wesentlich teurer als in
anderen Läden. So klein dieser in der Praterstrasse gelegene Laden war, schien
er sowohl vom Warenangebot und der Auswahl, wie sonderbarerweise auch von
Kaufwilligen überfüllt. Stets war bestens geschultes, freundliches Personal in
ausreichender Anzahl zugegen, welches in firmeneigene, hellbraune Uniformmäntel
gekleidet jeden zuvorkommend bediente. Bei Meinl als Verkäufer oder Lehrling
engagiert zu werden waren viele bestrebt. Man hatte nur dann eine Chance, wenn
man einen erstklassigen Schulabschluss vorweisen konnte, sowie eine
betriebsinterne Prüfung bestand. Selbst danach wurde unter den vielen Bewerbern
noch gründlich ausgesiebt. Hatte jemand den Zuschlag der Anstellung bekommen,
konnte er oder sie sich fast "von" nennen, denn das Personal von Meinl stand im
beruflichen Ansehen weit über anderem Verkaufspersonal, was sich auch im
Verdienst bemerkbar machte. Dreißig bis fünfzig Prozent aller Kunden, wenigstens
die im Heim lebenden, ließen anschreiben, was auf Pump einkaufen hieß. Dies war
machbar, wenn man dem Ladenbetreiber halbwegs bekannt war und man tat es, sobald
man knapp bei Kassa war - wann war man es nicht? So wurstelten sich viele von
einem zum anderen Monat durch. Usus war es, jene Geschäfte zu umgehen, bei denen
man längere Zeit mit der Bezahlung der Schulden in Rückstand geraten war. Gelang
es nicht, die vorrangigen Schulden zeitgerecht zu begleichen, durfte man mit
Sicherheit den Pfändungsbeamten erwarten. Manche gerieten dadurch in einen
Kreislauf von Schulden machen und bezahlen, aus welchem ihnen erst Jahre später
auszubrechen gelang.
Neben Tee, seltener Kaffee und dem herrlichen Wiener
Hochquellwasser trank man bei Gamliels sehr gerne Himbeersaft. Besonders fein
und vor allem prickelnd schmeckte der Sirup, spritzte man ihn mit Sodawasser
auf. Sodawasser war in dicke Glasflaschen abgefüllt und nur über Gasthäuser im
Gassenverkauf erhältlich. Die Flaschen standen unter einem starken
Kohlesäuredruck und waren deshalb mit einem speziellen Metallverschluss, einen
ebensolchen Auslass und einem Hebel versehen. War Dorothea danach oder wollte
sie den Kindern Freude bereiten, wurde Hans - wer sonst? - eine solche Flasche
von einem Gasthaus holen geschickt. Ehe der Wirt Hans die Flasche über die
Schank hinweg reichte verabsäumte er nie, sich mittels kurzem, sehr schnell
ausgeführten Schlag auf den Hebelmechanismus davon zu überzeugen, dass der
Flascheninhalt unter genügend starkem Druck stand. Dann schoss ein kurzer
Wasserstrahl von der Flasche ins Spülbecken. Erst danach überreichte er sie ihm.
Einmal, als Hans wieder eine solche Siphonflasche holen musste, herrschte im
Gasthaus Stossbetrieb. Des turbulenten Geschäftsgang wegen überreichte der Wirt
diesmal Hans die Flasche, ohne den Probeschlag ausgeführt zu haben. Hans nahm
die Flasche entgegen und verließ rascher als er eingetreten war das Lokal. Schon
lange hatte er gehofft, eigentlich darauf gewartet, dass der Wirt besagte
Kontrolle einmal auslassen möge und diesmal war der Fall eingetreten. Hans hatte
nichts weiter im Sinne gehabt, als die Kontrolle selbst auszuführen. Er machte
sich daran, die Praterstrasse langsam zu überqueren. Langsam deshalb, weil er
den Mechanismus noch kontrollieren wollte. Daher konzentrierte er sich
wesentlich mehr auf die Ausführung seines Vorhabens als auf den Verkehr auf der
Hauptstrasse. Er kämpfte, einerseits mit dem beachtlichen Gewicht der Flasche,
andererseits damit, diese mit einer Hand so zu halten, dass er endlich, mit der
anderen den Schlag auf den Mechanismus ausführen konnte. Der Weg zum Heim war
kurz. Er geriet in Zeitnot, denn die Probe wollte er unbedingt noch ausführen.
Endlich schlug er auf den Hebel und fühlte sich danach für einen kurzen
Augenblick mächtig. Ein starker, aber viel längerer Strahl als sonst beim Wirt,
schoss aus der Siphonflasche. Hans hatte die Flasche mit dieser auch den
Ausfluss nicht nach unten sondern aufwärts gehalten, weshalb der Strahl halbhoch
in Richtung Straßenmitte hin zielte. Er hatte den Hebelmechanismus eindeutig zu
lange gedrückt, und der lange Wasserstrahl traf einen just im selben Augenblick
mit einer Beiwagenmaschine daher fahrenden Motorradfahrer mitten ins Gesicht.
Der Fahrer erschrak und verriss seine Maschine derart, dass er eine Strecke in
Schlangenlinien weiter fuhr. Dann, als er sein Gefährt wieder unter Kontrolle
gebracht hatte, wendete er und machte sich daran, dem nicht weniger
erschrockenen, nun davon laufenden Knaben nachzufahren. Sowohl der erschreckte
Motorradfahrer wie auch Hans hatten ungemein großes Glück, dass jener mit seinem
Gefährt nicht in einen der damals noch in der Strasse stehenden Kandelaber
hinein krachte. Hans, der den Strahl vom Verlassen der Flasche bis hin zum
erschreckten Antlitz des Motorradfahrers verfolgt hatte, war, als er das Malheur
erkannte, wie vom Blitz getroffen. Einen Augenblick lang blieb er erstarrt
stehen, um im Moment darauf möglichst rasch davon zu laufen. Außer Atem und
keuchend erreichte er das rettende Heim. Seiner erstaunten Mutter die Flasche in
die Hände drückend, versuchte er in unverständlichen Wortfetzen sein Hasten zu
erklären und sich zugleich in den Kasten zu zwängen und darin zu verstecken. Der
Motorradfahrer hatte wohl gesehen, wohin Hans gelaufen und in welchem Haus er
verschwunden war und fuhr durch das offen stehende Tor in den Hof hinein.
Dorothea vernahm eine brüllende Männerstimme, begab sich zum Fenster und sah
hinunter. Sie versuchte den zu Recht aufgebrachten Mann zu besänftigen. Nach
einigem Hin- und Her wandte er sich ab, startete die Maschine und fuhr mit
heftigem Kopfschütteln davon. Erst nach einer Weile wagte Hans sein Versteck zu
verlassen und über das Vorgefallene zu berichten. Er war fest davon überzeugt,
nichts dafür zu können. Von ihm aus gesehen hatte alleine der Wirt, seiner
Nachlässigkeit wegen, Schuld am Vorgefallenen.
Mit der Zeit konnte man in Wien an vielen von Ruinen und
Schuttbergen frei gewordenen Plätzen neue Bauten entstehen sehen. Vorrangig
wurden Wohnhäuser errichtet, die meisten von der Gemeinde Wien, „Gemeindebauten"
genannt. Die entstandenen Wohnungen wurden von der Gemeinde nach einem von ihnen
erstellten Modus an Bedürftige vergeben. Dorothea trachtete schon die längste
Zeit danach, mit den Kindern und Onkel Paul aus dem Heimzimmer in eine Wohnung
zuziehen. Finanziell war es ihnen nie und nimmer möglich, eine Wohnung zu
erstehen. Daher verfasste Dorothea Eingabe über Eingabe an alle zuständigen
Institutionen und an so genannte "Macher", bis hin zum Bundeskanzler und
Bundespräsidenten, um auf ihre missliche Lage und Bedürftigkeit hinzuweisen. Die
Wohnungsvergabe hing aber, wenn auch nur hinter vorgehaltener Hand
ausgesprochen, davon ab, welcher Gesinnung und Partei man zuzuordnen war. Da
hatten Dorothea und Onkel Paul die wohl schlechtesten Karten zur Hand. Beide
waren sie Mitglieder der KPÖ gewesen und somit alle Eingaben um Zuteilung einer
Gemeindewohnung von vornherein, vergebliches Mühen und andauernde Leerläufe.
Aber war es nicht aus vielerlei Gründen und in weit
verbreiteter Weltanschauung damals naheliegend und verständlich, dass sie zu den
Kommunisten tendierten? Hatte sie nicht die Sowjetarmee vom Hitlerjoch befreit
gehabt? Hatten nicht die Sowjets Onkel Paul, trotz zehn Jahre dauernder
Emigration (und dies in Sibirien) sein Überleben ermöglicht? Und befand sich das
Obdachlosenheim nicht ausgerechnet in der Leopoldstadt, welche sowjetische
Besatzungszone und zugleich eine Hochburg der KPÖ Wien war? Daher war Russlands
Staatschef Stalin sowohl für Onkel Paul wie auch für Dorothea ihr Befreier.
Hätten sie damals schon gewusst, dass der auch von ihnen Umjubelte ihrem
Peiniger Hitler an Grausamkeit um nichts nachstand - das Schicksal war ihnen
gnädig und ließ sie die Wahrheit über Stalin erst viel später erfahren, dann
aber völlig anders über ihn denken und urteilen. Industriebetriebe, die in der
sowjetischen Zone angesiedelt und noch intakt waren, wurden von den Russen
baldigst aktiviert und selbstverständlich von russischen Direktoren geleitet.
Durch diese Ankurbelung fanden viele Wiener Beschäftigung und die KPÖ einigen
Zulauf. In einem solchen Betrieb hatte Dorothea, die fünf Fremdsprachen in Wort
und Schrift perfekt beherrschte seit geraumer Zeit eine Anstellung als
Chefdolmetscherin und Sekretärin gefunden. Auch Onkel Paul arbeitete im
südlichen Wien, ebenfalls in einem von den Russen geführten Betrieb, in seinem
erlernten Beruf als Buchhalter.
Das Parteilokal der KPÖ befand sich zuerst in der
Praterstrasse Nr. 24 und wurde einige Zeit später in das Haus 54 verlegt, in
welchem Johann Strauss den Donauwalzer komponiert hatte. Besonders die neue,
junge Generation wurde von der KPÖ umworben, für die sie viele Veranstaltungen
organisierte. Hin und wieder lud die KPÖ zu wunderbaren "Bunten Abenden" ein,
durch welche die damals bekannten Conferenciers wie Max Lustig, Else Rambausek
oder Richard Eybner führten und in denen häufig Ensembles der Rotarmisten
atemberaubende und zugleich artistische Tanzvorführungen zeigten oder der
Chorleiter Sergei Jaroff mit seinen Don Kosaken herrliche und mitreißende aber
auch zu Herzen gehende melancholische Gesänge zum besten gab. Es gab auch
Spiele, Feste und Ferienlager, die gerne besucht und benutzt wurden. Eine
Abteilung der Jungkommunisten war die "Junge Garde". Diese trug Uniformen mit
blauen Leinenhemden und entsprechendem Emblem auf der Brusttasche. Dazu hatte
man rote Halstücher umgebunden, von denen zwei Enden durch einen geflochtenen
Lederknopf gezogen waren, der das Tuch fixierte. Hans bewunderte am meisten den
Ledergürtel der Knaben. Am Gürtel faszinierte Hans der runde Metallverschluss,
auf dem eine Lilie eingestanzt war und der mit einfachem Handgriff zu handhaben
war. Um dieser Abteilung anzugehören, war Hans zu jung. Was aber viel
gewichtiger gegen seine Zugehörigkeit sprach, war die gewaltige Abneigung seiner
Mutter allen gegenüber, die Uniformen trugen, auch wenn es sich dabei um
kommunistische handelte. Fanden derlei Veranstaltungen, oft im weitläufigen
Pratergelände statt, wurde Hans damit beauftragt, "Moretti-Eislutscher" zu
verkaufen. Dazu wurde ihm eine Holzkiste mit Lederriemen umgehängt, in der die
beliebten Eislutscher kühl lagerten. Hans hatte am Verkauf Spaß und brachte die
leergekaufte Kiste samt dem erzielten Erlös bereits vor dem Ende der
Veranstaltung retour. Zwei Jahre nach Hans wurde Erika eingeschult. Ihre
Volksschule befand sich ebenfalls im zweiten Bezirk, in der Kleinen Sperlgasse.
Ihr Schulweg war halb so lang wie jener von Hans. Beide Kinder waren von ihrer
Mutter angewiesen worden, nach Unterrichtschluss auf dem kürzesten Weg nach
Hause zu kommen, es sei denn, sie gingen zur Ausspeisung in die Leopoldsgasse.
Während Hans mit der Pünktlichkeit nie Probleme hatte, schaffte es seine
Schwester trotz kürzeren Schulwegs nur selten, pünktlich daheim zu erscheinen.
Übermäßig lange Verspätungen waren bei ihr die Regel. Dabei tat sie nichts
anderes, als mit gleichgesinnten Kolleginnen am Nachhauseweg zu tratschen und
dabei Unmengen an Gehpausen einzulegen. Darüber konnte sich Mutter sehr
ängstigen und ärgern, was Erika mit regelmäßigem Hausarrest büßen musste.
Hans wurde während all seine Schulzeiten kein einziges Mal
antisemitisch angepöbelt. Dabei wohnte er in einem typischen Wiener
Proletariarbezirk, zudem im Judenbezirk, der so genannten "Mazzesinsel".
Vielleicht kam es deshalb niemals vor, weil weder er noch Erika ein jüdisches
Aussehen hatten – wenn es ein solches überhaupt gibt? Ihr Judentum war ihnen
eigentlich nur dann bewusst, wenn sie sich im Heim aufhielten. Freunden und
Fremden gegenüber verschwiegen sie grundsätzlich ihre Glaubenszugehörigkeit.
Selbst der Umstand, dass sie während des christlichen Religionsunterrichtes
Parallelklassen aufsuchen mussten, schürte bei keinem Mitschüler Neugier.
Ausgerechnet in der Tempelgasse, wo alle Gassenbewohner von der Existenz des
jüdischen Heimes Kenntnis hatten, kam es seltsamerweise hie und da vor, von
Jugendlichen als "Saujude" beschimpft zu werden. Zur Entlastung solcher
Jugendlicher muss beigefügt werden, dass sie dies nur taten, wenn sie mit Knaben
des Heimes, also Juden, Fußball spielten und die Judenbuben als
Sieger vom Platz gingen. Erwachsene waren eher zurückhaltend
mit dem Gebrauch von derlei Schimpfwörtern. So kurze Zeit nach dem Krieg hatten
doch viele Bedenken und Angst, vielleicht als Sympathisant der letzten
Machthaber angesehen oder gar erkannt zu werden. Kamen dennoch jene oder
ähnliche Schimpfwörter über deren Lippen, konnte man sicher sein, dass Alkohol
dafür ausschlaggebend war.
Der jüdisch-türkische Tempel war mittlerweile von einer
Baufirma vollends abgetragen worden. Da, wo so lange die Ruine gestanden hatte,
war ein großer freier Platz entstanden, der vom Heim bis zur Ferdinandstrasse
reichte und von den wenigen Heimknaben sofort zum Spielplatz auserkoren wurde.
Nach und nach gesellten sich Knaben aus Nachbarhäusern zu ihnen, und so wie ein
paar beisammen waren, wurde Fußball gespielt. Aus dem Boden ragten noch viele
Ziegelbruchstücke und Steinbrocken, und mancher der Knaben holte sich beim
Stolpern über solche Hindernisse ein blutiges Knie oder zog sich eine
Verstauchung zu. Mangels eines echten aber unerschwinglichen Lederfußballes
verwendeten sie ein "Fetzenlaberl". Dieses wurde von einer den Knaben
wohlgesinnten Mutter aus Stofffetzen zu einem Knäuel zusammen genäht und liebend
gerne als Fußballersatz verwendet. Den
Zweck, damit ins Tor zu schießen, erfüllte es allemal. Die
Torbreite wurde mittels Steinen oder abgelegten Kleidungsstücken markiert und
war einigermaßen erkennbar. Auseinandersetzungen unter den Knaben gab es, wenn
es um die An- oder Aberkennung eines Treffers ging, welcher knapp über den
Torwart hinweg erzielt worden schien, aber von den Gegenspielern nicht so
akzeptiert wurde, weil von ihnen aus gesehen, das "Laberl", weit über das Tor
geschossen worden war. Bevor sich die Streitereien darüber, ob es ein oder kein
Treffer war, in die Länge zu ziehen begannen, einigten sich die Spieler darauf,
dass der sich um den erzielten Treffer geprellt wähnenden Spieler einen Penalty
zugesprochen erhielt. Wie immer der Schuss dann ausfiel, es wurde sofort weiter
gespielt.
Seitdem Mutter und Onkel Paul berufsbedingt ganztägig außer
Haus waren, blieben Hans und Erika tagsüber auf sich selbst angewiesen. Deshalb
wurden die Kinder angehalten, verschiedene Hausarbeiten zu übernehmen. Dazu
gehörte Betten machen, kehren, Fenster putzen und anderes mehr. Es war
selbstverständlich, dass beide die aufgetragenen Arbeiten so gut sie es ihrem
Alter gemäss vermochten ausführten.
Hans Gamliel wurde am 25. Dezember 1940 in Subotica, nahe der
serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina geboren. Seine Mutter Dorothea
(1918 - 1983) stammte väterlicherseits aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie.
1938 war sie vor den Nationalsozialisten mit Eltern, Geschwister und weiteren
Verwandten aus Wien nach Serbien geflüchtet. Dort lebten sie auseinander
gerissen bei verschiedenen serbischen Familien versteckt im Untergrund. Ein
Grossteil der Familienangehörigen wurde jedoch aufgestöbert, deportiert und in
Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet. 1945 kehrte Dorothea Gamliel
mit Sohn Hans und der um zwei Jahre jüngeren Tochter Erika, dabei vielerlei
Hindernisse überwindend, über Umwege nach Wien zurück. Im Obdachlosenheim der
Israelitischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk fanden sie für die nächsten Jahre ein
Zimmer. Ab Anfang der 1960er Jahre, arbeitete Hans aufgrund besserer
Berufs-Chancen im Gastgewerbe häufig in der Schweiz, wohin er 1984 nach Grub im
Kanton Appenzell Ausserrhoden zu seiner Frau übersiedelt ist und noch heute dort
lebt. Im Gedenken an seine leidgeprüfte Mutter und seinen ermordeten Vorfahren
schrieb Hans Gamliel in den letzten zehn Jahren seine Familiengeschichte und
Kindheitserinnerungen auf. Dabei erzählt er die Geschichte in der dritten
Person. Ein Jahr seiner Kindheit 1948/49 verbrachte er auf Vermittlung der
Wiener Israelitischen Kultusgemeinde bei einer jüdischen Familie in der Stadt
Basel.