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Josef Unger - Ein jüdischer Pionier des sozialen Wiener Wohnbaus

Ursula PROKOP

Die Leistungen des „Roten Wien" in der Zwischenkriegszeit, insbesondere auf dem Gebiet des sozialen Wohnbaus, stehen bis heute weltweit im Mittelpunkt des Interesse zahlreicher Wissenschafter und Publikationen. In der sehr umfangreichen Literatur zu diesem Thema hat man sich unter anderem auch mit den diversen Ursprüngen und Vorbildbauten dieses kulturhistorischen Phänomens auseinander gesetzt.1 Eine kleine Siedlung in Favoriten, die das erste Beispiel sozialen Wohnbaus in Wien überhaupt darstellt, wurde jedoch bis dahin nie erwähnt. Ebenso ist deren Mitinitiator, der Architekt Josef Unger, der auch sonst eine höchst bemerkenswerte Persönlichkeit gewesen ist, heute in völlige Vergessenheit geraten. Der frühe Pionier soll hier gewürdigt werden.

Abb. 1: Arbeiterwohnhäuser Kiesewettergasse. Foto zur Verfügung gestellt: U. Prokop

Josef Unger wurde 1846 als ältestes von vier Kindern des Kaufmannes Isidor Unger in Kunarowitzl nahe Bielsko-Biala, das damals noch zu österreichisch-Galizien gehörte (heute Komorovice, Polen), geboren.2 Über die Zwischenstation Brünn in Mähren, wo der Knabe die Oberrealschule absolvierte, kam die Familie im Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts nach Wien. Als einer der ersten jüdischen Studenten überhaupt besuchte Unger das damalige Wiener Polytechnikum (die Vorläuferinstitution der heutigen Technischen Universität), wo er unter anderen den renommierten Ringstraßenarchitekten Heinrich v. Ferstel als Lehrer hatte.3 Mehrere Indizien weisen darauf hin, dass die Familie damals in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Wie viele der weniger begüterten Juden, die zumeist aus Galizien kamen, wohnte man im 2. Wiener Bezirk, der Leopoldstadt, und der Student Josef war vom Schulgeld befreit. Nach der Beendigung seines Architekturstudiums erhielt Unger 1868 eine Anstellung bei der Österreichischen Nordwestbahn, arbeitete aber - vor allem in seinen späteren Jahren - nebenbei auch als freiberuflicher Architekt. Die damals gerade neu gegründete Eisenbahnlinie der Nordwestbahn war eine wichtige Verbindung zu den schnell an Bedeutung gewinnenden Industriegebieten in Böhmen und Mähren. In seiner Funktion als Inspektor war Josef Unger - neben der Planung von „Aufnahmegebäuden" (wie man damals die Stationsgebäude nannte) - insbesondere auch mit der Errichtung von Wohnhäusern für die Bahnangestellten befasst, die im Zuge des Baues neuer Bahnstrecken erforderlich waren. Diese Bauaufgabe, die damals noch vergleichsweise Neuland war, veranlasste Unger zahlreiche Studienreisen insbesondere nach Westeuropa zu unternehmen, um sich mit dem Arbeiterwohnbau und dem Einfamilienhaus zu beschäftigen. Unger, der seine Erfahrungen auch in zahlreichen Fachartikeln publizierte, wurde in der Folge zu einem der anerkanntesten Experten auf diesem Gebiet. Insbesondere der ehrenvolle Ankauf seiner 1895 erschienenen Studie über dänische und deutsche Arbeitersiedlungen seitens der kaiserlichen Fideikommissbibliothek veranschaulicht sein hohes fachliches Prestige.4 Dieser Umstand ist um so mehr hervorzuheben, als das Thema zu jener Zeit von den meisten Architekten völlig negiert wurde, da Wohnbauten - insbesondere für die unteren sozialen Schichten - nach damaligem Verständnis nicht in die Kategorie der „Baukunst" fielen

Es mag auf den ersten Blick erstaunlich scheinen, dass Probleme des sozialen Wohnbaus, die für eine bis dahin weitgehend in agrarischen Strukturen verhaftete Gesellschaft neu waren, im Zusammenhang mit dem Bahnwesen thematisiert wurden. Doch es sei darauf hingewiesen, dass die Bahn und alles, was damit zusammenhing einer der wichtigsten Faktoren des Modernisierungsschubes im 19. Jahrhundert war. Nicht nur, dass die Errichtung neuer Bahnlinien zahlreiche technische Innovationen wie neue Konstruktionsverfahren, Brückenbauten und die Rationalisierung des Bauwesens zur Folge hatten, ermöglichte sie den Menschen eine bis dahin nie gekannte Mobilität. Dieser Umstand veränderte nicht nur die gesellschaftlichen Strukturen - verwiesen sei auf den Zuzug der Landbevölkerung in die Städte und die bessere Nutzung der Rohstoffe für die neu entstehende Industrie - sondern veränderte auch die Alltagskultur, insbesondere durch die Entstehung des modernen Tourismus mit all seinen Folgen. Nicht zuletzt fand das Phänomen „Bahn" auch seinen künstlerischen Niederschlag in den Bildern der Impressionisten, für die die dampfenden Lokomotiven und die flirrende Atmosphäre der großen Bahnhöfe immer wieder ein beliebtes Sujet war.

Abb. 2: Jubiläumsarbeiterwohnhaus Klosterneuburg. Foto zur Verfügung gestellt: U. Prokop

Nicht zufällig spielten Juden, die aus den bis dahin bestehenden wirtschaftlichen Strukturen weitgehend ausgeschlossen waren, auf dem Gebiet des Bahnwesens von Anfang an eine bedeutende Rolle, insbesondere die großen Familien Pereira und Rothschild, die als Initiatoren und Finanziers den Aufbau des österreichischen Eisenbahnnetzes vorantrieben. Weniger beachtet wurde hingegen die Bedeutung der eine Ebene tiefer arbeitenden jüdischen Ingenieure und Techniker, die sich in diesem neuen Bereich engagierten und vielfach Pionierleistungen erbrachten. Entsprechend groß war die Zahl der Technikstudenten, und viele Mitglieder des renommierten Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines waren Juden.5 Auch Josef Unger war diesem wichtigen Fachverband schon bald nach seinem Studienabschluss beigetreten und hatte den Großteil seiner Schriften in den Fachorganen des Vereines publiziert.

Seine fundierten Kenntnisse auf dem Gebiet des Arbeiterwohnbaus brachten Unger schließlich in Kontakt mit dem Philanthropen Dr. Maximilian Steiner, ein Versicherungsmakler, der sich jedoch über seine berufliche Tätigkeit hinaus schon des längeren mit sozialen Problemen befasste und 1880 eine umfassende Studie zum Problem der Armut in Österreich publizierte, in der er insbesondere das Desinteresse der Behörden beklagte.6 Vier Jahre später, 1884, initiierte Steiner eine Studie über die Wohnverhältnisse in Wien, die ergab, dass aufgrund der hohen Mieten, der ausschließlich von privater Hand errichteten und auf Gewinnmaximierung ausgerichteten Wohnhäuser, die meisten Angehörigen der Unterschicht finanziell überfordert waren und in eine verhängnisvolle Schuldenfalle gerieten. Darüber hinaus spottete ein Großteil der Wohnstätten in den so genannten Zinskasernen allen hygienischen und sozialen Anforderungen. Angesichts dieser Übelstände plante Steiner nach westeuropäischem Vorbild das Experiment einer genossenschaftlich organisierten Wohnbaugesellschaft, als er 1886 den „Verein für Arbeiterhäuser" unter seiner Leitung ins Leben rief.7 Nachdem schließlich auch der Wiener Stadterweiterungsfond für dieses Vorhaben einen Kredit gewährt hatte, konnte ein billiger Baugrund in Wien-Favoriten (Wien 10, Kiesewettergasse 13-15) erworben werden, und Josef Unger wurde als Spezialist auf diesem Gebiet mit der Planung einer Mustersiedlung beauftragt.

Josef Unger konzipierte dann nach englischem Vorbild einstöckige Reihenhäuser mit Vorgärten oder Innenhöfen. Die klein dimensionierten Häuser mit Giebeldächern waren teilweise in Sichtziegel, teilweise in Putz ausgeführt „um dem Äußeren eine freundliche Gestaltung zu geben",8 wie es der Architekt selbst formulierte, wobei sie sich formal - zweifellos nicht zufällig - an die damals übliche Gestaltungsweise von Bahngebäuden anlehnten. Die jeweilige Wohnfläche schwankte zwischen 67 und 97 m², die Gärten waren bis maximal 68m² dimensioniert. Alle Wohnungen verfügten über einen direkten Wasseranschluss für die Küche und einen Abort, der im Haus situiert war und nicht - wie bis dahin üblich - außerhalb lag, und waren damit in hygienischer Hinsicht ein großer Fortschritt. Die verhältnismäßig großzügige Anzahl von Räumen (eine Wohnstube und 2-3 Schlafzimmer) sollte den Bewohnern Zuverdienstmöglichkeiten durch die Betreibung eines Gewerbes oder Untervermietung bieten. Ebenso war vorgesehen, dass die kleinen Gärten durch den Anbau von Nutzpflanzen zur Verbesserung der Eigenvorsorge dienten. Mittels jährlicher Zahlung sollte innerhalb von 25 Jahren das Haus ins Eigentum übergehen können, wobei die Zielgruppe insbesondere kleine Gewerbetreibende waren. Um einer Verwahrlosung der Anlage vorzubeugen, herrschte eine strenge Hausordnung, so durfte unter anderem kein Alkohol ausgeschenkt werden.

Von dem ursprünglich viel umfassender geplanten Projekt von 36 Häusern kam allerdings nur die Hälfte zur Realisation. Die kleine Siedlung in der Kiesewetterstraße, die das älteste Beispiel sozialen Wohnbaus in Wien überhaupt darstellt, ist zum Großteil noch erhalten, auch wenn sie heute in ihrer niedrigen Verbauung von dem umliegenden Bauten nahezu erdrückt wird und wie ein etwas anachronistischer Fremdkörper im Stadtbild wirkt (Abb.1). Obwohl sich das Unternehmen bewährte und auf die Mieter sowohl in gesundheitlicher als auch sozialer Hinsicht positiv auswirkte, wurde das Experiment nicht fortgesetzt. Die Gründe waren vielfältig, möglicherweise erwies sich das Konzept einer Reihenhaussiedlung, das im angelsächsischen Raum mit seinem Pachtsystem durchaus üblich war, in Wien mit seinem strikten römisch-rechtlichen Eigentumsbegriff an Grund und Boden nicht ganz geeignet. Vielleicht hat man auch die ökonomischen Möglichkeiten der damaligen Arbeiterschaft und der kleinen Gewerbetreibenden überschätzt. Nicht zuletzt gab es auch antisemitische Agitationen gegen Maximilian Steiner, der zynischerweise als „jüdischer Bauspekulant" diffamiert wurde.9 Jedenfalls löste sich der Verein Mitte der neunziger Jahre auf und übergab sein Vermögen der „Stiftung für Volkswohnungen".

Als kurze Zeit später, 1898, diese Stiftung anlässlich des 50-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Franz Josefs unter großem publizistischen Aufwand einen Wettbewerb für ein Volkswohnungsprojekt in Wien-Ottakring ausschrieb, beteiligte sich selbstverständlich auch Josef Unger, der ja damals zu den wenigen Experten auf diesem Gebiet zählte. Nach seinen Erfahrungen mit dem Favoritner Projekt und dem Scheitern der Reihenhausidee basierte sein Entwurf jetzt auf der Geschossbauweise, wobei er vierstöckige Häusergruppen um einen zentralen Innenhof, von dem auch die Treppenhäuser zugänglich waren, situierte. Erstmals waren auch Gemeinschaftseinrichtungen wie Waschküchen und Baderäume vorgesehen. Damit nahm dieses Konzept Ungers bereits wesentliche Kriterien der „Volkswohnpaläste" des „Roten Wien" der Zwischenkriegszeit vorweg. Allerdings erhielt Unger, da er seinen Entwurf aus Zeitmangel nicht näher ausführen konnte, nur den 2. Preis und daher auch nicht den Auftrag für das Projekt der „Kaiser-Jubiläums-Volkswohnhäuser".10 Unger konnte sein Konzept - wenn auch in wesentlich bescheideneren Dimensionen - etwas später im Rahmen zweier Wohnanlagen für die Landarbeiter des Chorherrenstiftes von Klosterneuburg in Niederösterreich realisieren (1898 Jubiläumsarbeiterwohnhaus, Wiener Straße 68 und 1910 der so genannte „Kreindlhof", Albrechtstraße 105-107), wobei allerdings aufgrund des Umstandes, dass Klosterneuburg damals noch über keine Wasserleitung und Kanalisation verfügte, Abstriche bei den hygienischen Einrichtungen gemacht werden mussten (Abb.2).11 Auch diese frühen Beispiele sozialen Wohnbaus bestehen bis heute. Es entbehrt jedoch nicht einer gewissen Symbolik, dass auf der Bautafel, die im Flur der Anlage angebracht ist, nur der Bauführer und der ausführende Baumeister, aber nicht der Name des planenden Architekten angeführt ist, obwohl Unger seine Entwürfe zu diesem Projekt ausführlich publiziert hatte.12

Als Josef Unger 1904 nach fünfunddreißigjähriger Tätigkeit für die Österreichische Nordwestbahn hoch geehrt in Pension ging, arbeitete er noch einige Zeit weiter als freier Architekt, wobei der Wohnbau seine Domäne blieb (unter anderem errichtete er einige Villen im Währinger Cottage, die heute jedoch nicht mehr erhalten sind). 1922 verstarb Unger, der eine Frau und eine Tochter hinterließ, im 76. Lebensjahr in Wien. Obwohl er zu den wichtigen Vordenkern des sozialen Wohnbaus zu zählen ist, ist sein Name heute zu Unrecht völlig vergessen.

1 U. a.: H. u. R. Hautmann, Die Gemeindebauten des Roten Wien 1919-1934, Wien 1980; Kommunaler Wohnbau in Wien 1923-1934 (Kat.), Wien 1978; M. Tafuri, Vienna Rossa, Milano 1980; H. Weihsmann, Das Roten Wien, Wien 1985 und Eve Blau. The architecture of Red Vienna 1919-1934, Cambridge (Mass.), 1999

2 Matrikenstelle der IKG Wien

3 Schülerbogen des Archivs der Technischen Universität (TUWA), Heinrich v. Ferstel erbaute unter anderem die Votivkirche und die Wiener Universität.

4 Josef Unger, Der Arbeiterbauverein in Copenhagen und die Spar- und Bauvereine in Deutschland. In: Zeitschrift des österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines 47.1895, S.545ff und S.556ff

5 Der Anteil der jüdischen Studenten an der Technischen Hochschule erreichte zeitweise bis zu 30 %. Der Umstand des hohen Anteils von jüdischen Mitgliedern des Österreichischen Ingenieur- und Architektenvereines (u. a. der Großindustrielle Karl Wittgenstein, der Vater des Philosophen Ludwig Wittgenstein) führte daher nach dessen Auflösung 1938 zu einem erheblichen ideellen und materiellen Aderlass, von dem sich der Verein auch nach seiner Neukonstituierung 1945 nie mehr so recht erholen konnte. Siehe dazu: Georg Widtmann, Ein Blick zurück, Abriss der Geschichte des ÖIAV, in: Zeitschrift d. österr. Ingenieur u. Architektenvereines 143.1998, H.7 (Festschrift 150 Jahre Österreichischer Ingenieur- und Architektenverein)

6 Maximilian Steiner, Zur Reform der Armenpflege in Österreich, Wien 1880 - Dr. Maximilian Steiner ist nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Theaterdirektor

7 J. Unger; Die Arbeiterwohnhäuser in Wien Favoriten. In: Wochenschrift des Österr. Ingenieur- und Architektenvereines 11.1886, S.329ff

8 Unger, siehe oben

9 Maximilian Steiner, Der „Verein für Arbeiterhäuser" in Wien, Wien 1896

10 Diese Anlage, die zu Unrecht in der Literatur zumeist als der erste soziale Wohnbau in Wien angeführt wird, wurde schließlich nach den Plänen der Architekten Leopold Simony und Theodor Bach realisiert.

11 Josef Unger, Das Jubiläums-Arbeiterwohnhaus des Chorherrenstiftes Klosterneuburg. In: Zeitschrift d. Österr. Ingenieur- u. Architekten-Vereines 51.1899, S.545f – Unger ist möglicherweise durch seine Tätigkeit als Bahninspizient in geschäftlichen Kontakt mit dem Chorherrenstift gekommne

12 Siehe dazu Josef Unger, Der Kreindlhof in Klosterneuburg, in: Zeitschrift d. Österr. Ingenieur- u. Architektenvereines 59 1907, Nr. 28, S.501f

 

 

 

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