In den Räumen des ehemaligen Gemeindehauses, Herklotzgasse 21
wurde anlässlich des 70-jährigen Gedenktages der Novemberpogrome von 1938,
zwischen 29. 10. und 28. 11. 2008 die Ausstellung „Das Dreieck meiner Kindheit.
Eine jüdische Vorstadtgemeinde in Wien XV" gezeigt. Sie thematisierte unter
anderem den jüdischen Kindergarten in der Herklotzgasse, der bis 1938
existierte. Eines jener Kinder, die damals den Kindergarten besuchten, ist Chava
Blodek Kopelman. Für DAVID erzählte sie über ihre Kindheit in Wien und die
Flucht der Familie aus dem nationalsozialistischen Wien nach Israel.
DAVID: Sie sind in der Herklotzgasse in den jüdischen
Kindergarten gegangen. Haben Sie Erinnerungen daran?
Chava Blodek Kopelman: Die Erinnerung an den
Kindergarten hat mich vor etwa zwei Jahren zu beschäftigen begonnen, als ich ein
Foto von unserer Kindergarten-Gruppe fand. Da begann ich nach den anderen auf
dem Foto zu suchen – was ist aus ihnen geworden, haben sie überlebt? Gefunden
habe ich Erika, Ditta und Edi. Die anderen auf dem Foto sind: Liesl, sie
flüchtete nach Australien, so wie Lilli Hauser. Einer ging nach Canada. Hansi
ging nach Tel Aviv, aber ich habe ihn nicht wiedergefunden. Unsere Lehrerin
Malka Verständig wurde in Jugoslawien umgebracht. Bei einem Buben auf dem Bild
weiß keiner von uns, wer er ist, und man denkt ständig: Ist er vergast? Es wäre
ein richtiges Wunder, wenn alle gerettet worden wären.
DAVID: Waren Sie seit Ihrer Kindheit wieder in der
Herklotzgasse?
Chava Blodek Kopelman: Vor zwei Jahren war ich
erstmals da. Erika in Israel leitete mich an, sie sprach mit mir am Telefon,
während ich durch die Herklotzgasse ging: Hier habe ich gewohnt, hier war das
Geschäft meiner Eltern, und so weiter. Das war das teuerste Telefonat meines
Lebens, aber wunderbar!
DAVID: Haben Sie heute zu anderen
Kindergarten-Mitschülern Kontakt?
Chava Blodek Kopelman: Edi wohnt in Israel, 10
Autominuten entfernt von mir. 40 Jahre lang wussten wir nichts voneinander. Ist
das nicht komisch? Der Kindergarten war jüdisch-zionistisch und arbeitete nach
dem Montessori-System. Es gibt keine Listen mit den Namen der Kinder, oder
vergleichbare Unterlagen.
DAVID: Wie haben Sie Edi gefunden?
Chava Blodek Kopelman: Ich bin gern in den
Kindergarten gegangen. Etwa ein halbes Jahr bevor die Herklotzgassen-Initiative
startete, fand ich dieses Foto und begann nach den ehemaligen Kollegen zu
suchen. Ich nannte es meine „Konsulat-Aktion". Das gefundene Foto hängte ich
nämlich am österreichischen Konsulat in Tel Aviv auf, es hängt immer noch dort.
So bekam ich Hinweise auf Überlebende.
Kindergartengruppe im Hof Herklotzgasse 21, ca. 1935. Foto:
privat
DAVID: Wie sind Sie nach Israel gekommen?
Chava Blodek Kopelman: Ich wurde im September 1931
geboren. Am 13. 2. 1939 kam ich in Palästina an. Es war der Tag meiner zweiten
Geburt. Vom Schiff herunter zu gehen war eine Geburt! Mein Vater hatte Wien
schon viel früher verlassen können, im Mai 1938. Es war einfach für ihn gewesen,
denn er hatte gute Verbindungen, als berühmter Schachmeister in Wien. Er dachte,
ein Einwanderungs-Zertifikat wäre leicht zu bekommen, aber letztlich dauerte es
zehn Monate, bis meine Mutter mit mir weg konnte.
DAVID: Erinnern Sie sich an die Zeit zwischen der Abreise
Ihres Vaters und Ihrer eigenen nach Palästina?
Chava Blodek Kopelman: Ich war auch im November 1938
noch da, in Wien, mit meiner Mutter. Wir wohnten am Margaretengürtel, Ecke
Schönbrunnerstraße, in einer nichtjüdischen Gegend, wir waren die einzigen Juden
im Haus. Frau Eder, die Hausmeisterin, war eine, wie sagt man, righteous
– eine Gerechte. Wenn sie Juden suchen kamen, sagte Frau Eder: Bei mir im Haus
gibt es keine Juden! Die Tochter Eder war bei der NSDAP. Oft hatte sie deshalb
Streit mit der Mutter. Die Mutter sagte: „Ich werde nie über die Blodeks
erzählen, lieber will ich sterben." Bei unserem Abschied weinte die
Hausmeisterin und gab mir einen Anhänger, einen Rauchfangkehrer. Er sollte mich
beschützen auf meiner Reise nach Palästina.
DAVID: An wen können Sie sich noch erinnern aus Ihrer
Umgebung, in jener gefährdeten Zeit?
Chava Blodek Kopelman: An den Milchmann kann ich mich
erinnern. Von der Molkerei kam jeden Morgen der Besitzer und brachte uns Milch
und Butter, heimlich. Von diesen beiden Menschen hat meine Mutter oft erzählt,
von der Hausmeisterin und dem Molkerei-Besitzer. Ich selbst habe kaum
Erinnerungen an früher. Ich erinnere mich an den „Anschluß", das wurde auch oft
erzählt, aber ich erinnere mich selbst daran. Da begann die Angst. Es war
dunkel: Wir saßen ab da im Dunklen. Als mein Vater wegging, habe ich schrecklich
geweint, Daran erinnere ich mich.
Kinderzeichnung aus dem ehemaligen jüdischen Kindergarten in
der Herklotzgasse 21. Zeichnung: Chava Blodek Kopelman
DAVID: Wie war es, als Ihr Vater noch in Wien war, zu
Beginn des Terror-Regimes?
Chava Blodek Kopelman: Das letzte Mal, als wir in
einem Park waren, kam ein Mann mit Armbinde. Für Juden war bereits verboten
worden, sich in öffentlichen Parkanlagen aufzuhalten. Der Mann kannte meinen
Vater, denn er nannte ihn beim Namen, das kann also kein Fremder in der Gegend
gewesen sein. Er sagte zu meinem Vater: „Sie, Herr Blodek, Sie können im Park
bleiben mit Ihrer Familie." Mein Vater antwortete: „Danke, Nein! Wenn andere
gehen müssen, gehen wir auch." Danach durften wir nie wieder im Park sein.
DAVID: Erinnern Sie sich noch an andere Personen?
Chava Blodek Kopelman: Da war der Briefträger. Er war
nett, und er lächelte immer. Im Januar 1939 einmal, meine Mutter und ich waren
außer Haus gewesen und kamen zurück, erwartete er uns strahlend und lachend, und
übergab uns ein Kuvert: „Es ist da, es ist da!" Das waren unsere
Einwanderungs-Zertifikate nach Palästina, die endlich gekommen waren. Er hat
sich so gefreut! Das war in jener Zeit ein Licht. Vor allem im Vergleich zu
unserer Nachbarin, einer Nazi. Wenn sie laut Radio hörte, Hitlers Reden, habe
ich mich versteckt, ich hatte Angst, Hitler bellte doch so wie ein Hund.
DAVID: Wie war das, dieses Leben in der Wohnung, nach der
Abreise des Vaters?
Chava Blodek Kopelman: Meist saßen wir im Dunklen.
Nur in der Badewanne brannte eine einzige Kerze, damit man von außen sehen
konnte: da ist niemand. Und Frau Eder hat uns geschützt. Ich habe trotzdem Angst
gehabt. Mein Vater hatte einen Onkel Robert in Wien, der schickte mir Geld,
damit ich mir etwas kaufte. Im Haus gab es ein jüdisches Schokoladen-Geschäft,
von Frau Engel. Eines Tages wollte ich statt Schokolade von Frau Engel Bananen
kaufen, am Markt. Der Weg dorthin ist etwa 1 Kilometer lang. Ich kam dort an,
sah die Bananen, schämte mich hineinzugehen in das Geschäft und drehte wieder
um. Ohne Bananen oder Schokolade kam ich heim. In der Tür standen meine Mutter
und Frau Eder, beide weinten schrecklich. Sie dachten, ich war mitgenommen
worden. Sie haben nicht mit mir geschimpft. Aber meine Mutter erzählte noch
jahrzehntelang: Das Kind ist weggelaufen. Das zeigt mir, wie viel ich damals
verstanden habe, in jener Zeit.
DAVID: Wie erging es Ihrer Mutter, so alleine mit Ihnen,
in jener Zeit der permanenten Lebensgefahr? Wie hat sie das bewältigt?
Chava Blodek Kopelman: Meine Mutter war eine Heldin,
dass sie mit mir alleine geblieben ist und gewartet hat. Ich erinnere mich, sie
hat viele Papiere verbrannt: Alles, was nicht sicher war ging ins Feuer, auch
Bilder von Kaiser Franz Joseph, man wusste nicht, ob es gefährlich war, so etwas
zu besitzen. Alle anderen Papiere habe ich noch, die Liebes-Briefe von meinem
Vater an meine Mutter. Hausrat konnte damals noch verschickt werden. Mein
Dreirad zum Beispiel: Es ist angekommen in Palästina! Das war meine größte
Freude, gleich nach dem Ausschiffen bin ich herumgefahren in Haifa. Auch meine
Puppen sind angekommen, auch das war sehr wichtig für mich. Und dann hat das
Zweite Leben begonnen.
DAVID: Ihre Eltern waren aus Wien?
Chava Blodek Kopelman: Meine Eltern stammen beide aus
Krakau, sie kamen im Zuge des Ersten Weltkrieges nach Wien. Hier lernten sie
einander kennen, 1925 war die Hochzeit, im Schmalzhof-Tempel. Die Großeltern
waren dabei, sie gingen zurück nach Polen und schrieben Postkarten, auf Deutsch.
Der Großvater war Deutsch-Lehrer in Krakau. Die „Geheimsprache" meiner Eltern
war Polnisch – der beste Weg für ein Kind, Sprachen zu lernen! Meine Mutter
hatte außerdem noch in Krakau Hebräisch gelernt. Mit meinem Vater hingegen
sprach ich auch in Palästina bzw. später Israel weiter Deutsch, während ich mit
meiner Mutter Hebräisch und Deutsch abwechselnd sprach. Mit meinem Vater war es
immer nur Deutsch. Aber nicht auf der Straße, denn damals gab es in Palästina
einen Boykott der deutschen Sprache. Die anti-deutschen Gefühle waren in den
1940er Jahren sehr stark. Mich haben die Kinder damals ausgelacht, weil ich
einen so starken deutschen Akzent hatte. Es dauerte zwei oder drei Monate, bis
ich überhaupt Hebräisch konnte, aber immer noch mit deutschem Akzent. Ein paar
Monate war es schwierig, dann habe ich es überwunden. In der zweiten Klasse war
ich schon die beste Schülerin – vor lauter Wut. Ich wollte zeigen: ich kann!
DAVID: Was bestimmte diese erste Zeit in Palästina für
Sie?
Chava Blodek Kopelman: Die Kinder, die bereits dort
geboren waren, sprachen fließend sephardisches Hebräisch, sie lachten mich aus.
Die Erwachsenen haben mich gut behandelt, es waren ja alles Emigranten. Ich
wurde gleich in den Ulpan, den Hebräisch-Unterricht, geschickt, Von März bis Mai
1939 ging ich nach der Schule in das Nachmittags-Programm des Leo
Baeck-Institutes, wo Kinder in der hebräischen Sprache unterrichtet wurden.
DAVID: Hatten Sie damals noch Erinnerungen an Wien,
Heimweh?
Chava Blodek Kopelman: Ich glaube, ich habe mich
bemüht zu vergessen. Ich erinnere mich an nichts. In der Gumpendorfer Straße
111, dort haben wir gewohnt, bevor wir auf den Margaretengürtel umgezogen sind -
von dort habe ich eine kleine Erinnerung aus dem Kinderwagen. Aber sonst nichts.
Wien blieb bei uns daheim. Meine Mutter hat immer Operetten gesungen, und
Platten mit Operetten gespielt. Mein Vater hat Lieder aus der k. u. k. Armee
gesungen, er war dort Oberleutnant gewesen und verwundet worden. Auch das war
eine Verbindung, die ihm später geholfen hat, wegzukommen. In der Monarchie
hatte er sechs oder sieben Auszeichnungen bekommen. Bei jedem Geburtstag hat man
Walzer getanzt, Strauss, Lehár, Kálmán. Ich liebe diese Sachen bis heute! Meine
Mutter las Deutsch, vor allem Literatur, Thomas Mann, Jakob Wassermann,
Hofmannsthal – das ist mit mir aufgewachsen. Man hat erzählt von Wien, die
Bekannten waren ja auch alle aus Wien. Ich selbst wollte nur Israelin sein, aber
das Deutsch ist doch auch mitgekommen, alles. In Wahrheit wollte ich es nicht
loswerden, ich habe es gerne gehört, es sind wunderbare Leute, Leo und Walter
Slezak, die Bücher: Ich liebe es bis heute.
DAVID: Wie ist es für Sie, nach Wien zu kommen?
Chava Blodek Kopelman: Ich war schon oft in Wien. Ich
habe einen Wiener geheiratet. Er war Israeli, aber auch er war aus Wien. Seine
Schwester ging 1951 nach Wien zurück, letztes Jahr ist sie gestorben. Das erste
Mal haben wir sie 1963 besucht. Das war schwierig: Ich komme von hier, aber ich
gehöre nicht dazu. Nach dem Tod meines Schwagers zu Beginn der 1990er Jahre
kamen wir oft auf Besuch nach Wien, die Schwägerin war ja allein. Da kamen wir
jedes Jahr. Sie wollte in Wien bleiben, wollte nicht weg, sagte: Ich gehöre nach
Wien. Dann gingen wir auf Sommerfrische nach Tirol. Als Kinder waren wir in
Mauer bei Wien auf Sommerfrische gewesen, in Reichenau an der Rax, in Puchberg
am Schneeberg. Die Mütter mit den Kindern waren auf Sommerfrische, die Väter
kamen an den Wochenenden nach.
DAVID: Gibt es außer Ihnen Überlebende aus Ihrer Familie?
Kennen Sie jemanden?
Chava Blodek Kopelman: Vor etwa zwei Jahren bekam ich
einen Anruf aus Kolumbien: Ich bin ein Blodek, wer bist Du? Er ist katholisch,
wohnt in Medellín und hat zwei Töchter, die in Wien studieren. Die Eltern sind
aus Wien. Sie kamen im Juni 1938 nach Kolumbien. Er weiß nicht, ob seine Mutter
vielleicht Jüdin war. Ich habe recherchiert und fand heraus: Seine Eltern waren
beide Juden, aus Krakau. Vor vier Generationen hatte es zwei Brüder gegeben,
einer war meine Familie Blodek, der andere seine. Seine Eltern heirateten im Mai
1938 im Seitenstetten-Tempel, im Juni 1938 gingen sie nach Kolumbien. Sein
Vater, Fritz Federico Blodek (Hirsch nach dem Geburtsschein) hat beschlossen,
seine Kinder sollten keine Juden sein, sie sollten nichts wissen, es sollte
ihnen nicht so gehen wie ihm selbst. Er war ein berühmter Architekt, auch in
Kolumbien. Vor sechs Jahren ist er gestorben.
DAVID: Wo leben Sie heute?
Chava Blodek Kopelman: Wir leben halb in den USA,
mein Mann unterrichtet an der Universität Michigan. Ich unterrichte Hebräisch
für Kinder, für Drei- bis Achjährige, nach der Montessori-Methode, wie in meinem
eigenen Kindergarten (schon wieder!). Nach drei Jahren nahm mein Mann ein
sabbatical, und ich volontierte bei der Organisation „Amcha", die Interviews
mit Holocaust-Überlebenden macht. Schon zuvor hatte ich an der Universität, Ann
Arbor, sieben Jahre studiert, Psychotherapie. Dann kam diese Israel-Reise, und
dort das Interesse für die Holocaust-Survivors. Seit damals fahre ich jedes Jahr
für einige Monate nach Israel, um Interviews zu machen. In Ann Arbor hingegen
arbeitete ich nur mit Ehepaaren, und es war kein einziger Juden dabei. 12 Jahre
lang machte ich das. Seither arbeite ich viel in Israel, etwa drei Monate jedes
Jahr.
DAVID: Ist das für Sie nicht emotional sehr anstrengend?
Chava Blodek Kopelman: Ich glaube es ist schrecklich
wichtig. Diese Geschichten sollen verewigt werden! Es war schwierig, ich habe
schreckliche Geschichten gehört. Trotzdem, oder gerade deshalb: Ich glaube, das
ist sehr wichtig: Es soll nichts vergessen werden.
Das Interview führte Tina Walzer