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Zwischen Miedzybórz und dem „Marsch von Selma" - Abraham
Joshua Heschel
Domagoj AKRAP
Kein jüdischer Denker war in der
amerikanischen Öffentlichkeit in den Jahren der Bürgerrechtsbewegung mehr
präsent als Abraham Joshua Heschel. Der Spross einer chassidischen Familie,
aus der stolze sieben Generationen lang Rabbiner hervorgegangen waren, wurde
am 11. Januar 1907 in Warschau geboren. 1
Die Wiege seiner Vorfahren steht allerdings in Miedzybórz, dem letzten Ort
des Wirkens von Ba’al Schem Tov (1698 – 1760, Begründer des Chassidismus),
neben dessen Grab Heschels Ahnherr, der Apter Rav (1748 - 1825) liegt. Seine
Eltern zogen erst wenige Jahre vor seiner Geburt von
Novominsk nach Warschau, und der Vater, Rabbi Mosche
Mordechai (1873 – 1916), gründete in der Muranowska Straße, im Zentrum des
jüdischen Warschau, einen chassidischen Hof. Der Sohn Abraham Joshua wuchs
in chassidischer Umgebung auf und beschritt den traditionellen orthodoxen
Bildungsweg: Mit drei Jahren begann er das Torastudium, mit fünf sorgte er
durch gewiefte Antworten auf religiöse Fragen bereits für Verwunderung, und
mit acht folgte das Studium des Talmud und weiterer religionsgesetzlicher
Texte. Die weltliche Bildung spielte in Kindheit und Jugend keine Rolle.
Erst durch den Arzt Fishl Schneersohn (1887 – 1958), einen Nachkommen der
Lubavitscher Dynastie, gelang Heschel langsam die Annäherung an die modernen
Wissenschaften. Es war eine Annäherung, die ohne Abkehr von seiner
chassidischen Tradition einherging. Heschel zog trotz langer
Familiendiskussionen nach Vilna, um dort am Realgymnasium, einer säkularen
Bildungseinrichtung mit jiddischer Unterrichtsprache, zu maturieren. Hier
kam er mit linken jüdischen Schulkollegen zusammen, und obwohl er keine
innigen Freundschaften schloss, hinterließ der Kontakt mit Bundisten,
Sozialisten und radikalen Befürwortern der Revolution Spuren. Im „Jerusalem
Litauens" wurde der Keim für Heschels späteres politisches Bewusstsein und
soziales Engagement gesät. Die chassidische Familientradition ging dann,
Jahre später, ein „Bündnis" mit säkularen Formen des Judentums und sozialem
Aktivismus ein. Die jiddische Umgangssprache am Gymnasium wurde so zu
Heschels Emanzipationssprache. Sie wies ihm den Weg in die Moderne, den er
im Sommer 1927 nach erfolgreicher Absolvierung aller Prüfungen mit
anschließender Matura antreten konnte. Mit diesen Grundvoraussetzungen
ausgerüstet war der Weg nach Berlin frei! Heschel inskribierte an der
Universität im Hauptfach Philosophie, und als Zweitfach wählte er
Kunstgeschichte und Semitistik. Nebenbei ließ er sich an der Hochschule für
die Wissenschaft des Judentums eintragen und hielt zudem Kontakt zum
orthodoxen Hildesheimer Seminar. Seine jüdischen Lehrer waren von nun an
Chanoch Albeck (1932 wurde er sein Assistent für Talmud), Ismar Elbogen,
Julius Guttmann und Leo Baeck, von dem Heschel sagte, er wäre der meist
gebildete Mann, den er je getroffen habe.2
In Berlin erlangte Heschel neben seiner Warschauer „Identität", die sich im
Chassidismus äußerte, und der Vilnaer, die durch den Jiddischismus bestimmt
war, seine dritte „Identität", die sich in der modernen Wissenschaft
ausdrückte. Alle drei sollten künftig in seinem Leben gebührenden Platz
einnehmen, wodurch er einer der wenigen osteuropäisch – jüdischen Denker
wurde, die Zugang zur modernen Welt fanden, ohne das lebendige Erbe des
Ostjudentums zu verlassen. In seiner Dissertation, betitelt „Das
prophetische Bewusstsein"3,
entwickelte er anhand der Propheten erstmals seine „Theologie des Pathos"
und die „Religion der Sympathie". Im Oktober 1938 wurde Heschel mit weiteren
70.000 polnischen Juden aus Deutschland abgeschoben. Er konnte nach einigen
Wochen im Internierungslager zu seiner Familie nach Warschau zurückkehren.
Erst im Sommer 1939, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten
Weltkrieges, war es ihm möglich, das Land zu verlassen.
Er bekam ein Transitvisum für London, von wo er im März 1940 in die USA
emigrierte. Seine erste Station in der neuen Welt war Cincinnati, wo er
zwischen 1940 und 1945 am reformierten Hebrew Union College unterrichtete.
Er fügte sich als Emigrant und Europäer nur schwer in den Lehrbetrieb ein,
der Tradition des amerikanischen Reformjudentums konnte er nicht viel
abgewinnen – die beiden Welten waren zu unterschiedlich, um verbunden zu
werden. Sein eigentliches Ziel war daher, an das Jewish Theological Seminary
nach New York zu gelangen. Das schaffte er schließlich 1945, als er dort die
Stelle eines Professors für jüdische Ethik und Mystik erhielt. Damit begann
seine lebenslange Verbundenheit mit dem Jewish Theological Seminary. Er
beeinflusste durch sein tief chassidisch geprägtes Wissen und die religiöse
Überzeugung in den folgenden Jahrzehnten eine ganze Reihe junger
amerikanischer Studenten und Rabbiner nachhaltig. Die vorherrschende
universalistische Ethik wollte er mit ritueller Observanz und Ehrung des
lebendigen Gottes verbinden, wofür ihm sein „heiliger Humanismus" das
Fundament bot. Die Propheten, die seit den Studententagen sein Interesse
beherrschten, „zwangen" ihn in den 1960-er Jahren auch, an der immer stärker
werdenden Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung teilzunehmen. Immer öfter
bezog er zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen Stellung.
Sein unermüdlicher Einsatz und rastloses Engagement, von dem er trotz
wiederholter ärztlicher Warnungen nicht abließ, führten schließlich am 23.
Dezember 1972 zu seinem Tod.

Heschel 2. v. re., Martin Luther King 4. v.
re. beim Protestmarsch von Selma nach Montgomery. Quelle:
http://www.dartmouth.edu/~religion/faculty/heschel-photos.html;Copyright ©
2008 Trustees of Dartmouth College.
Heschels theoretische Hauptwerke zur
Religionsphilosophie sind Man Is Not Alone (1951) und God in
Search of Man (1955). In ihnen versucht er die Grundbegriffe seiner
„theologischen Revolution" zu formulieren. Religion sieht er als Antwort auf
die letzten existentiellen Fragen des Menschen. Der Gott der Bibel ist weder
eine Projektion des Menschen, noch ist er eine philosophische Abstraktion,
als die ihn die Berliner Professoren seiner Studientage beschrieben haben.
Er ist lebendige Realität, die sich dahingehend äußert, dass nicht mehr der
Mensch als tätiges Subjekt, sondern Gott im Mittelpunkt steht. Was von
unserem Geist als „Ich" empfunden wird, ist für Gott ein „Es". Daraus ergibt
sich, dass als Ausgangspunkt für unser Verständnis Gottes unser
Selbstbewusstsein eigentlich zu einem „Objektbewusstsein" werden muss. 4
Darin liegt auch der grundlegende Unterschied zwischen dem Philosophen und
dem Menschen des Gebets. Für ersteren ist Gott ein Objekt, während er für
letzteren das Subjekt ist, das angerufen werden kann. Der Gott der
Philosophen ist indifferent und stumm, mit sich selbst beschäftigt, während
der biblische Gott teilhat am Leben des Menschen. Diese Anteilnahme äußert
sich im göttlichen Pathos, das am besten in der Prophetie ausgedrückt ist.5
So werden die Propheten, die Heschel seit seiner Kindheit faszinierten, auch
in den späteren Lehrjahren Leitfiguren für sein eigenes Verhalten. Neben den
Kindheitserinnerungen war es aber vor allem der spirituelle Bankrott, den er
an den deutschen Universitäten miterleben musste, der ihn zu den Propheten
führte:
„Die Herausforderung, vor die wir alle gestellt sind
und das fürchterliche Schamgefühl, das an unserer Fähigkeit zu innerem
Frieden rüttelt, trotzen unseren Methoden und Denkmustern. Man ist
genötigt, zuzugeben, dass einige der Gründe und Motive unseres Denkens
unsere Existenz irregeführt haben, dass intellektueller Reichtum keine
Antwort auf spirituellen Bankrott ist. Es war die Erkenntnis, dass die
rechten Münzen in der allgemeinen Währung nicht verfügbar waren, die
mich zum Studium des Denkens der Propheten hinzog." 6
Der Prophet ist jemand, der zu
seiner Gesellschaft „Nein" sagen kann und der ihre Gewohnheiten, Annahmen,
Sorglosigkeit und Eigensinn verurteilt. Er ist kein Diplomat, er ist ein
„Extremist", der alles an Gott misst und dem daher keiner gerecht oder weise
genug ist. 7
Die Bibel wird bei Heschel von einer Theologie des Menschen zur
Anthropologie Gottes, sie handelt nicht so sehr von der Natur Gottes,
sondern vielmehr von dem, was Gott vom Menschen verlangt. Sie ist nicht die
menschliche Sicht Gottes, sondern Gottes Sicht des Menschen, und sie ist
nicht die Geschichte des Volkes Israel, sondern die Schilderung von Gottes
Weg auf der Suche nach dem Recht schaffenden Menschen. Es ist, als ob Gott
nicht allein sein wollte und den Menschen auserwählt hat, ihm zu dienen.8
Die Frage an Adam: Wo bist du? (Gen. 3,9), hallt durch die
Jahrhunderte und verlangt immer wieder aufs Neue nach einer Antwort. Darin
spiegelt sich Heschels „theozentrische Wende", die als Antwort auf
die Philosophie, aber auch auf die Theologie des 19. und frühen 20.
Jahrhunderts gesehen werden kann. Sie ist für ihn der Ausgangspunkt, das
Problem der menschlichen Existenz zu betrachten. Der Mensch ist dabei kein
allumfassender Selbstzweck, denn für einen Menschen, der sich als absoluter
Zweck betrachtet, können tausend Menschenleben nicht soviel wert sein wie
sein eigenes.9
Worauf es ankomme, sei, dass es des Menschen bedürfe. Hier liegt auch der
Schlüssel zu seinem Glück. Kein Mensch wird alleine glücklich! Die
entscheidende Frage lautet nun: Wer braucht den Menschen? Sowohl die Natur,
wie auch die Welt, kämen ohne Menschen gut aus. In der radikalen Antwort
Heschels liegt die Essenz seiner Theologie: Der Mensch wird als einziges
Wesen auf Erden gebraucht, er ist ein Bedürfnis für Gott.10
Auch das wesentliche Charakteristikum der jüdischen Religion lässt sich
daraus erklären; Heschel definiert sie als Bewusstsein von Gottes
Interesse am Menschen, sein Bewusstsein des Bundes und der
Verantwortung, die auf den zwei Bündnispartnern lastet.11
Gott wird durch den Bund zum Partner und Helfer im Kampf des Menschen um
Gerechtigkeit und Frieden. Das Wesen des Judentums ist das Bewusstsein der
Wechselseitigkeit Gottes und des Menschen, das Gewahrsein der Gemeinsamkeit,
die uns Rechte, und nicht nur Pflichten, auferlegt. Es liegt an uns, ihm zu
antworten und sich ihm zu verantworten. Für Heschel ist klar, dass die
Verantwortung immer die Freiheit mit einschließt, die Freiheit gegenüber
Gott, die ungeachtet unserer Begrenztheit gegenüber der Umwelt und der
sozialen Determiniertheit bestehen bleibt. Auf der anderen Seite kann
Freiheit nicht ohne Verantwortung denkbar sein, denn der Mensch ist
verantwortlich für seinen Umgang mit der Natur und dem Mitmenschen.12
Es waren ausgerechnet die „theozentrische Wende" Heschels und die
Propheten, die ihn zum politischen Engagement führten. Wie er selbst in
seinem letzten Interview noch bekundet, hätten sie sein Leben verändert:
Von den Propheten habe ich gelernt, dass ich in die Angelegenheiten des
Menschen, des leidenden Menschen, involviert zu sein habe.13
Ausgerüstet mit der Lehre der Propheten wandte sich
Heschel immer öfter tagespolitischen Themen zu. Er nahm an politischen
Konferenzen und interreligiösen Tagungen wie der National Conference on
Religion and Race in Chicago im Januar 1963 teil. Hier begegnete er
erstmals dem Bürgerrechtskämpfer Martin Luther King, mit dem ihn vor allem
die Erfahrung der Ausgrenzung verband. Im März 1965 nahm er gemeinsam mit
Martin Luther King am berühmten Protestmarsch von Selma nach Montgomery
teil, wodurch seine Popularität und Autorität bei vielen jüdischen
Jugendlichen enorm stieg. Von nun an fungierte er als Verkörperung des
biblischen Propheten. Seine politischen Aktivitäten erreichten ihren
Höhepunkt, als Heschel im Januar 1966 zum Vizepräsident der National
Emergency Committee of Clergy Concerned about Vietnam (CCAV) ernannt
wurde, einer Organisation, die sich vehement gegen den immer heftiger
geführten Vietnamkrieg aussprach. Seine Verehrung und Bewunderung den
Propheten gegenüber brachten ihn in eine vergleichbare Position, so dass
auch er tiefes Misstrauen gegenüber Politikern und anderen „Inhabern" der
Macht zu hegen begann.
Eine rein auf Innerlichkeit
gerichtete Spiritualität war schlussendlich für Heschel unvorstellbar, ja
gar unnütz. Erst durch die bewusste Tat des Einzelnen gewinne sie Bedeutung
für die Menschen, sowie für Gott. Heschel ruft uns die Propheten in
Erinnerung, wenn er sagt: einige sind schuldig, aber alle sind
verantwortlich. Diese Losung gilt um so mehr für eine freie Gesellschaft
und darf uns auch heute als Leitfaden für unser Verhalten gelten.
1 Für eine genauere Beschäftigung mit Heschels Leben und
Wirken sei auf die beiden Biographien verwiesen: Edward K. Kaplan / Samuel
H. Dresner: Abraham Joshua Heschel: Prophetic Witness, New Haven
[u.a.] 1998 (behandelt die Jahre in Europa bis 1940), sowie Edward K.
Kaplan: Spiritual Radical: Abraham Joshua Heschel in America, 1940-1972,
New Haven [u.a.] 2007.
2
Vgl. Edward K. Kaplan / Samuel H. Dresner:
Abraham Joshua Heschel: Prophetic Witness, New Haven [u.a.] 1998, S.
116.
3 Heschel beendete sein Studium
bereits im Februar 1933, die Dissertation konnte aber wegen der
Machtergreifung der Nationalsozialisten im März 1933 erst 1936 in Krakau
unter dem Titel „Die Prophetie" von der Akademie der Wissenschaften
veröffentlicht werden.
4
Vgl. Abraham Joshua Heschel: Man Is Not Alone, New York 2000, S. 126.
5 Ebenda, S. 244f.
6 S. Heschel: The Prophets,
S. XXVIII, Perennial Classics ed. 2001. Deutsche
Übersetzung nach: Bernhard Dolna: Abraham Joshua Heschel – Prophet der
Prophetie, in: Judaica, Jg. 63 Heft 3, 2007, S. 7.
7 Heschel wörtlich: No one
is just; no knowing is strong enough, no trust complete enough. The prophet
hates the approximate, he shuns the middle of the road. Man must live on the
summit to avoid the abyss. …Carried away by the challenge, the demand to
straighten out man’s ways, the prophet is strange, one-sided, an unbearable
extremist (s. The Prophets, S. 19).
8 Vgl. Heschel: Man Is Not
Alone, S. 129, sowie: God in Search of Man, S. 136f.
9 Vgl. Heschel: Man Is Not
Alone, S. 194.
10 Man is needed, he is a
need of God. Ebenda, S. 215.
11 Ebenda, S. 241: There is
only one way to define Jewish religion. It is the awareness of God’s
interest in man, the awareness of a covenant, of a responsibility
that lies on Him as well as on us.
12 Ebenda, S. 289.
13 S. Susannah
Heschel (ed.): Moral Grandeur and Spiritual Audacity, New York 1996,
S. 399.
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