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Wien 2, Tempelgasse Nr. 3c
Erinnerungen 1943 – 1953, Teil 4

Hans  GAMLIEL

 

Wahre Freunde

Wieder wurde ein Zimmer frei und sofort einer neuen wartenden Familie zugeteilt. Diese Familie hieß nun Alten. Sie bestand aus dem Vater Egon - einem echten Wiener, seiner Gattin Selda aus Polen und deren Söhnen Heini, der in Frankreich, sowie Peter, welcher in der Schweiz geboren war. Ihre Flucht vor Hitler hatte die Familie über Frankreich, die Schweiz und Belgien nach Israel geführt. Beide Knaben besuchten bereits in Haifa die Schule, doch setzte das ungewohnte Klima Ihrer Mutter Selda, die gesundheitlich nicht auf der Höhe war, sehr zu. Daher entschloss sich die Familie, via Schiff nach Neapel und von dort per Bahn nach Wien zu reisen. Anfangs fand sie bei Bekannten Unterschlupf, landete aber wie viele vor ihnen ebenfalls im Heim in der Tempelgasse Nr. 3. Im Heim sprach die Familie Alten erst nur Französisch und Jiddisch, aber bald schon nur noch Wienerisch. Heini und Peter waren exzellente Fußballspieler. Heini war gleich alt wie Hans und ein brillanter Techniker, Peter war Jahrgang 1944, klein von Statur, aber wieselflink. Seiner Kleinheit wegen wurde Peter oft von den Gegenspielern übersehen, wobei diese oftmals gar nicht merkten, dass er im Ballbesitz war. Wurde von den Knaben beschlossen, auf dem Tempelplatz Fußball zu spielen wählten zwei zuvor als Kapitäne Bestimmte aus den Umstehenden ihre Mitspieler aus. Heini, der beste Spieler am Platz, wurde oft zum Kapitän gewählt. Dann versuchte Hans sich so hinzustellen, dass er in die Mannschaft Heinis gewählt wurde. Hans merkte, dass Heini ihn aus Wohlwollen und Freundschaft, aber nicht seines fußballerischen Könnens wegen in seine Mannschaft wählte.
Die enge Freundschaft zwischen Hans und Heini hatte kurios begonnen. So wie Hans wurde auch Heini von seiner Mutter mit den Schuhen aller Familienmitglieder zum Schuhputzen auf den Gang hinaus geschickt. Dort begegneten die beiden Knaben einander zum ersten Mal. Sie grüßten kurz, und jeder stellte, während sie die Schuhe putzten, belanglose Fragen, nämlich, woher man käme, ob man dies und jenes zu tun verstünde. Heini lenkte das Gespräch geschickt in eine für ihn viel interessantere Richtung mit der Frage, wer von ihnen beiden wohl der stärkere Junge sei? Hans zuckte nur die Schultern und schwieg. Heini wollte wissen, ob Hans einen von ihm verabreichten Boxhieb ans Kinn aushalten würde? Unter der sicheren Zusage Heinis, denselben Versuch auch bei ihm durchführen zu dürfen, stimmte Hans zu. Danach ging alles sehr rasch. Heini verabreichte Hans einen gar nicht zaghaft ausgeführten Kinnhaken, den der Getroffene, der tatsächlich stehen blieb, nicht minder stark retournierte. Auch Heini war stehen geblieben und beide waren mächtig stolz, natürlich jeder auf sich selbst. Das war der Moment, von dem an sie dicke Freunde wurden und vieles miteinander unternahmen. Auf Vater Alten war Dorothea oft böse, denn wollte er, warum auch immer, einen oder beide Söhne bestrafen, kannte er nur das Mittel des Schlagens. Dabei achtete er nie darauf, wohin und womit er die Knaben schlagen wollte, und dass es dabei ziemlich laut zuging. Wenn er den Jungen im kleinen Zimmer hinterher lief, lachten diese und wichen den Schlägen geschickt aus, indem sie unter die Betten rutschten. Zum Glück schlug Herr Alten fast immer daneben. Dieses Spektakel ging so eine Weile, bis sich Herr Alten etwas beruhigt hatte oder, vom vergeblichen Nachspringen müde geworden, die Verfolgung aufgab. Ehe die Knaben unter den Betten wieder hervorkrochen, musste der Vater versprechen, ihnen nichts mehr anzutun. So war es meist nur viel Lärm um nichts, was aber Dorothea nicht sehen konnte und daher auf Herrn Alten nicht gut zu sprechen war. Heini, mit dem Hans noch einige harmlose Abenteuer bestreiten sollte, ist, nachdem er bereits verheiratet und Vater von zwei Söhnen geworden war, im blühenden Alter von nur sechsundvierzig Jahren nach acht schweren Kopfoperationen an einem bösartigen Gehirntumor, zuletzt noch gelähmt, viel zu früh verstorben.
Unter den harmlosen Streichen von Hans und Heini waren die bei Knaben beliebten „Glöckerlpartie" ebenso wie in späteren Jahren das Motorradfahren ohne Führerschein. Die „Glöckerlpartie" ging so: Sie durchstreiften eine ruhige Gasse. Dabei drückten sie hin und wieder auf die neben den Haustoren angebrachten, elektrischen Klingelknöpfe. Die Hausbewohner hielten daraufhin nach dem vermeintlichen Besuch aus ihren Fenstern Ausschau. Da aber Hans und Heini sofort weiter, womöglich um eine Ecke gelaufen waren, konnten die hinab Blickenden niemanden sehen und schlossen ihre Fenster fluchend wieder. Besonders verärgert waren jene Hausbewohner, deren Wohnungen zum Innenhof gelegen waren und die deshalb zum Haustor hinunter kommen und dort dasselbe erkennen mussten wie die anderen, nämlich, dass sie einem Lausbubenstreich aufgesessen waren.

Die mittellosen Heimkinder hatten kein Spielzeug. Das regte ihre Fantasie an. Sie erdachten verschiedenste Arten von Fangen-Spielen oder Verstecken, Tempelhüpfen, Steine weit oder gezielt Werfen oder das rasche Erkennen der Markennamen sich nähernder Autos. Herrschte schlechtes Wetter, lauschten sie in ihrem Zimmer den Gesängen von Erni Bieler, Rudi Hofstätter, Grete Schörg, Emmerich Arleth, Franz Schier, Ernst Arnold und vieler weiterer damaliger Lieblinge, die das Radio ausstrahlte. Eine Lieblingssendung von Hans lief am Vormittag und hieß „Vergnügt um elf". Ihr Radio war ein kleiner, schwarzer Bakelitkasten, ein so genannter Volksempfänger, noch ein Produkt aus der Nazizeit. An der Frontseite war deutlich ein Reichsadler mit Hakenkreuz sichtbar. Waren Fußball- Länderspiel-Übertragungen angesagt, hingen Hans und Onkel Paul mit dem Ohr am Apparat, waren doch Österreichs Fußballer damals bei vielen Begegnungen die Favoriten. An Wochenendabenden lauschten alle gerne den Hörspielen. Jeden Nachmittag zur selben Zeit wurde die Sendung „Ein Gruß an Dich" ausgestrahlt, von jenen Hörern, denen die Sendung weniger zusagte, die „Erbschleichersendung" genannt. Hans hörte gerne und oft Radio. Er wunderte sich jahrelang, dass nach der Bekanntgabe der gezogenen Lotteriezahlen jedes Mal die Worte „ohne Gewähr" folgten. Er begriff nicht, was „ohne Gewähr" zu bedeuten hatte, da er immer „ohne Gewehr" verstand. Trotz dieses Unverständnisses kam ihm erst lange später in den Sinn, jemanden um Aufklärung zu fragen, weshalb Hans sich noch lange mit dem „Gewehr" im Kopf zufrieden geben musste.
Einmal hatte Heini ein paar Groschen beisammen. Er animierte Hans, mit ihm
den Wiener Wurstelprater zu durchstreifen. Hans willigte sofort ein. Etwa fünfzehn Minuten zu Fuß benötigten sie bis zum Riesenrad. Von dort schlenderten sie an Ringelspielen, Geister- und Hochschaubahnen und vielen anderen Buden vorbei. Vor vielen dieser Unternehmen stand ein stimmgewaltiger Ausrufer, der die Vorbeischreitenden mit mehr oder weniger originellen, manchmal auch gereimten Sprüchen zum Mitfahren oder Mitmachen überreden wollte. Hans und Heini sogen das mit großem Gefallen auf, malten sich aus, wie lustig es wäre, da und dort mitzumachen. Vor einer Schießbude blieben sie staunend stehen, denn die hatte ihr besonderes Interesse entfacht. Da waren an der Wandseite Unmengen flacher Metallfiguren installiert, allesamt bunt bemalt, die verschiedensten Berufsgruppen, aber auch Märchenfiguren darstellend. Auf manchen der Figuren waren weiße Kreise mit schwarzem Mittelpunkt aufgemalt. Diesen Punkt galt es mit einem Luftdruckgewehr anzuvisieren. Traf man, begann sofort ein hinter der Figur angebrachter Mechanismus, die Figur etwa fünfzehn Sekunden lang zu bewegen. Danach stand sie bis zum nächsten Treffer wieder still. Wie gefesselt standen Hans und Heini vor dieser Bude. Nach einer Weile meinte Heini, das bisschen Geld, das er bei sich hatte würde langen, um jeden von ihnen drei Schüsse abgeben zu lassen. Hans war einverstanden und freute sich über die selbstlose Großzügigkeit seines Freundes. Schon hatte Heini zwei Gewehre geordert, die ihnen von einer Budenhilfe umgehend, bereits geladen und somit schussbereit übergeben wurden. Beide brannten darauf, die drei Schuss so rasch wie möglich abzugeben und womöglich als erster zu treffen. Fast zeitgleich trafen sie ihre anvisierten Ziele, die sich augenblicklich zu bewegen begannen. Sie fanden das sehr lustig und hatten ihren Spaß dabei. Gleich drückte jeder nochmals auf den Abzug seines Gewehres und tatsächlich knallte es abermals. Neuerlich bewegten sich die Figuren, die von ihnen diesmal kaum beachtet wurden, weil sie einander, ohne ein Wort zu wechseln, erstaunt ansahen. Sie waren sicher, dass sich der Budengehilfe zu ihren Gunsten geirrt habe sich, dabei stumm bleibend, einig, weitere Schüsse abzugeben. Sowie sie die Gewehre ablegten und im Begriff waren weiterzuziehen, baute sich der Budenbetreiber vor ihnen auf und forderte das ausstehende Geld für die zu viel abgegebenen Schüsse. Ihre euphorische Stimmung wurde von lähmendem Schreck abgelöst, ihre Köpfe liefen knallrot an. Was sollten sie nun tun? Der neuerlichen, diesmal wesentlich schroffer dargebrachten Aufforderung, die Schuld zu begleichen, konnten sie nicht nachkommen. Sie gestanden, kein Geld zu haben. Mit dem Geständnis gab sich der Budenbesitzer keineswegs zufrieden, und da der Betrieb unterdessen weiter lief, forderte er kurzerhand Heini, der einen wunderschönen Pullover an hatte auf, diesen auszuziehen und als Pfand dazulassen. Heini kam der Aufforderung umgehend nach. Hans, der keinen Pullover an hatte war froh, denn sowohl er als auch Heini dachten, sonst der Polizei übergeben zu werden. Zuletzt wurde festgehalten, dass der ausstehende Betrag am folgenden Tag gebracht werden musste. Schweigend, mit hängenden Köpfen trotteten sie, diesmal wesentlich länger als für den Hinweg brauchend dem Heim entgegen. Hans fühlte großes Unbehagen, denn er dachte an seinen Freund, der daheim noch ein Geständnis ablegen musste, mit fraglichen Folgen. Heini berichtete seiner Mutter vom Vorgefallenen, musste sich zum Glück nur Schelte anhören, bekam aber den ausstehenden Betrag ausgehändigt, um den Pullover auslösen zu können. Kurze Zeit danach dachte keiner der Knaben mehr an diese für sie so unrühmliche Begebenheit, sondern sannen auf neue Abenteuer.

Hans weihte Heini in viele, lange zuvor von ihm entdeckte Geheimnisse des Heimes ein. Dies waren der unversperrte Dachboden oder die dunklen, muffig und erdig riechenden Kellerabteile. Oft schlichen sie sich auf den Dachboden, um im Hof spielende Kinder zu beobachten, aber auch der tollen, weiten Aussicht wegen. Einmal, die Idee kam von Heini, brachte dieser feste Papiertüten mit auf den Dachboden. Abwechselnd füllten sie solch einen Sack halbvoll mit Wasser, das sie einen Halbstock tiefer von der Bassena geholt hatten und ließen diesen sodann knapp vor die im Hofe Spielenden plumpsen. Was war das für ein Spaß, wenn die unten durch den Aufprall und das Zerreißen der Säcke erschraken und dann noch durchnässt wurden. Nicht einen Gedanken verloren Hans und Heini darüber, was geschehen könnte, würde ein hinab geworfener Sack eines der Kinder direkt treffen. Zu ihrem großen Glück kam es nie so weit.

Ein Geheimnis, es war das allergrößte, das Hans in den Jahren seines Heimlebens entdeckt und bislang keinem anderen seiner kurzzeitig im Heim lebenden Spielgefährten preisgegeben hatte, verriet er nun seinem Freund Heini. Dabei handelte es sich um einen schwarzen Schaltkasten, der im ersten Stock hinter einem Flügel der immer offen stehenden Gangtüren angebracht war. Hans hatte den Kasten zufällig entdeckt und ebenso zufällig seine Funktion herausgefunden. Einmal hatte er mit anderen Kindern Verstecken gespielt und sich hinter diesem Türflügel versteckt. Hier stand er mucksmäuschenstill, um möglichst lang unentdeckt zu bleiben. Das blieb er und begann sich langsam zu langweilen. Da sah er einen über ihm angebrachten Kasten, von dem ein Hebel nach oben gerichtet weg stand. Die Suchenden suchten überall, nur nicht da, wo er sich befand, und ihm wurde immer langweiliger. Aus lauter Langweile fasste er den Hebel an und merkte, dass dieser sich bewegen ließ. Er drückte ihn langsam nach unten. Sogleich verlosch das spärlich leuchtende Ganglicht. Hätte Hans nicht das plötzlich aus verschiedenen Zimmern ertönende anschwellende Gemurmel und Fluchen vernommen, es wäre ihm nie und nimmer in den Sinn gekommen, dass er der Auslöser dafür gewesen sein könnte. Sicher war er sich erst, als er der Hebel wieder nach oben geschoben hatte und das Gemurmel daraufhin verstummte. Mit einem Male hatte er den Zusammenhang von Hebel, Licht und Geschimpfe begriffen und sein Tun begann ihm riesigen Spaß zu bereiten. Er nahm sich vor, wann immer ihm langweilig werden sollte dieses Versteck aufzusuchen und den Hebel zu bewegen. Am lustigsten fand er das, wenn es draußen dunkel wurde und alle Bewohner auf Licht angewiesen waren. Hans war mächtig stolz, sein größtes Geheimnis nun seinem Freund anvertraut zu haben, der dieses Vertrauen sehr zu schätzen wusste. Seither wechselten sie sich, wann immer einem danach zu Mute war, bei diesem Spielchen ab. Dass Frau Citron, die Heimleiterin, von diesem Schaltkasten Kenntnis haben musste, war keinem der Knaben in den Sinn gekommen. Zu oft hatte der Streich tadellos funktioniert, und ebenso oft hatten sie sich köstlichst amüsiert, von keinem Betroffenen entdeckt zu werden. Wieder einmal war Hans nach diesem Amüsement zu Mute. Hinter dem Türflügel stehend, hatte er große Mühe, das aufkommende Lachen zu unterdrücken. Diesmal schien das Geschimpfe besonders heftig. Deutlich wie immer vernahm er das Hin- und Hergetrappel der in Dunkelheit gestürzten Mitbewohner, die vermutlich nach Kerzen suchten. Plötzlich merkte Hans, wie sich der Türflügel in Zeitlupentempo von ihm weg bewegte. Augenblicklich begann sich ein äußerst mulmiges Gefühl in seinem Körper auszubreiten. Jetzt tastete eine fremde Hand nach dem Hebel und drückte diesen nach oben. Sowie das Licht wieder eingeschaltet war, blickten die ausnehmend erstaunten Augen von Frau Citron auf Hans herab, dessen erschrockenes Augenpaar nach oben in das der Heimleiterin gerichtet war. Ihr schien es die Sprache verschlagen zu haben. Sie hatte wie schon oft mit einem technischen Defekt gerechnet, nicht aber damit, den bislang im Heim besonders von den drei alten Damen als Musterknaben angesehenen Hans hier, und vor allem damit beschäftigt, anzutreffen. Mit bösem Geschimpfe untersagte sie ihm, den Hebel jemals wieder anzufassen und befahl ihm, augenblicklich sein Zimmer aufzusuchen. Das tat er auch, doch sowie die Luft wieder rein war, schlich er ins Zimmer seines Freundes, um diesem zu berichten. Beiden war klar, dass für sie diese Quelle des Spaßes ein für alle Mal versiegt war. Allzu lange musste die Familie Alten nicht im Heim bleiben. Ihr wurde eine Gemeindewohnung in der Stachegasse im zwölften Bezirk zugewiesen, die sie umgehend bezog. Hans bedauerte das Wegziehen der Familie mit seinem Freund Heini sehr. Ihre feste Freundschaft hielt jedoch darüber hinaus viele Jahre lang an, bis zu Heinis tragischem frühen Ableben.

Intermezzi

Der Wiederaufbau der Stadt ging so rasant vor sich, dass man sich nun auch daran machte, die Schweden- und die Aspernbrücke zu erneuern. Das war ein Spektakel, als eine Brücke nach der anderen fertig gestellt und zur Belastungsprobe frei gegeben wurde. Viele schwere, mit Kies beladene Lastwagen fuhren darauf und mussten einige Zeit dort verharren. An einem
zuvor bekannt gegebenen Tag wurden die Brücken dann feierlich eröffnet. Musikkapellen spielten auf, Politiker waren anwesend und hielten Reden, ehe sie vor dem Überschreiten ein über die Brücke gespanntes rotweißrotes Band zerschnitten. So waren die Brücken offiziell eröffnet. Geht man von der Leopoldstadt über die Aspernbrücke, steht am linken Brückenende die Urania. Das Gebäude beherbergte damals unter anderem einen großen,
mittleren und kleinen Kinosaal. Außerdem befindet sich in dem runden Teil der von außen gut sichtbaren, markanten Dachkuppel eine Sternwarte und in einem weiteren Saal gar ein Puppenspieltheater. Für den Besuch der Urania wurde täglich mehrmals im Radio geworben. In den beiden kleineren Kinosälen wurden in den frühen Nachmittagsstunden zu vergünstigten Preisen wunderschöne Märchen- und Zeichentrickfilme, häufig russischer Herkunft, aber auch Propagandafilme, ebenfalls aus Russland stammend, gezeigt. Solche Filme durfte sich Hans ab und zu ansehen, wobei ihm zwei Filmtitel in Erinnerung geblieben sind: „Die steinerne Blume" sowie „Nasr-ed-Din-Chodscha in Buchara". Einmal sah Hans am der Urania gegenüber liegenden Donaukanalufer eine kleine, zum Himmel blickende Menschenansammlung. Neugierig geworden, begab er sich dorthin. Nach oben schauend erkannte er ein starkes Seil, das über den Kanal hin von einem Haus zu einem anderen Haus gespannt war. Aus dem Gerede der Umherstehenden hörte er heraus, dass hier ein Seiltänzer mit spektakulären Darbietungen seinen Lebensunterhalt zu verdienen versuchte. Anscheinend lief es für den Artisten nicht so gut, wie er sich das vorgestellt hatte. Um seine Darbietungen noch interessanter zu gestalten, und auch, um mehr Zuseher anzulocken, bot er jedem den damals sehr hohen Betrag von 50 Schilling dafür, sich in einen Schubkarren zu setzen und, von ihm über das Seil geschoben, auf die andere Seite des Donaukanals führen zu lassen. So verlockend jedem der in Aussicht zu erhaltende Betrag erschien, niemand traute sich. Also balancierte er solo, einmal hinüber, dann wieder zurück, wobei ihm eine lange Balancierstange half, das Gleichgewicht zu halten. Nach jedem Überschreiten sammelte seine als Assistentin am Boden mitwirkende Tochter in einem umgekehrt gehaltenen Hut von den Umherstehenden Spenden ein. Ihr Vater warb immer wieder um Freiwillige, die sich von ihm über das Seil karren ließen. Um seine Sicherheit auf dem Hochseil zu beweisen beschloss er, das Kunststück mit seiner Tochter zu zeigen. Die setzte sich in den Schubkarren, den der Vater dann langsam vor sich herzuschieben begann. Auch am folgenden und übernächsten Tag mochte sich kein Zuseher zum Mitmachen bereit erklären. Ehe sich doch noch einer für dieses Spektakel zur Verfügung stellen konnte, stürzten Vater und Tochter auf das Urania-seitige Ufer tödlich ab. Als Spaziergänger kann man auf der dortigen Uferpromenade eine Gedenktafel für die Verunglückten entdecken.


Heimbewohner, die von der Naziherrschaft durch die Sowjets befreit worden waren tendierten häufig zu den Kommunisten und deren Ideologie. Onkel Paul war so ein Sowjetbegeisterter, wozu sicherlich sein zehnjähriger, mehr oder weniger freiwilliger Aufenthalt in dem Riesenreich beigetragen hatte. In Sibirien war er interniert und zur Arbeit in einem Kohlebergwerk eingeteilt worden. Es gelang ihm bald, dieser unzumutbaren, ihm völlig
fremden, schweren Tätigkeit zu entkommen. Er fand Anstellung in einem Kino, wo er am Klavier Stummfilme begleitete. Diese Arbeit sowie das Unterrichten hielten ihn während seiner Emigrationsjahre am Leben. Erst 1948 gelang es ihm, wieder nach Wien zurückzukehren. Herr Berkowitz, ein Heimbewohner, der mit Onkel Paul anfangs im Männerzimmer gewohnt hatte, war ebenso Kommunist geworden, hatte seine Emigrationsjahre aber in Ländern Mittelamerikas verbracht. Er war bestens mit den Lehren von Engels, Marx und Lenin vertraut. Onkel Paul und Herr Berkowitz mochten einander der gleichen Gesinnung und der vielen Diskussionen wegen, die sie darüber führten. Als Onkel Paul dann mit Dorothea und den Kindern das Zimmer teilte, kam Herr Berkowitz häufig auf einen längeren Tratsch zu ihnen. Einer seiner aufmerksamsten Zuhörer war Hans. Herrn Berkowitz Erzählungen klangen so abenteuerlich, häufig kaum glaubwürdig, wurden aber von seiner Lebensgefährtin, Frau Bermann, die mit Rudolf Bing, dem langjährigen Intendanten der Metropoliten Opera in New York verwandt war und nicht im Heim wohnte, jedes Mal bestätigt. Die mit viel Humor gespickten Berichte ließen kaum erahnen, wie oft sich das alles am Rande vom Leben zum Tod abgespielt hatte. Manchmal erzählte Herr Berkowitz so, dass man seinen Gedankensprüngen kaum oder gar nicht folgen konnte. Dann schien er abwesend zu sein. Als sie einmal im Hausflur zusammentrafen, fragte er Hans, ob der nicht Lust hätte, jeweils am Sonntagmorgen eine kleine, nur zwei Stunden dauernde Arbeit zu übernehmen? Er sagte erst hinterher, dass es sich dabei um das Austragen der „Volksstimme", des kommunistischen Tagblattes Österreichs handle. Dem Jungen war es recht und seine Mutter, die damals auch Mitglied dieser Partei war hatte dagegen nichts einzuwenden. Bereits wenige Wochen danach trug Hans Sonntag für Sonntag an die dreißig Exemplare der Zeitung an Abonnenten aus. Ab und zu erhielt er ein Trinkgeld, das er umgehend bei einem Zuckerbäcker in Süßigkeiten eintauschte. Das Austragen der Zeitung geschah ehrenamtlich. Vielleicht hatte Herr Berkowitz aus diesem Grund den Job an Hans übergeben? Onkel Paul, der mit Leib und Seele Musiker, aber kein Buchhalter war befriedigte seine Anstellung im Industriebetrieb überhaupt nicht. Er sah sie nur als momentane Notlösung an. Die tägliche, umständliche und lange Fahrerei ins südliche Wien veranlasste ihn eines Tages, die Anstellung zu kündigen. Er plante, den Lebensunterhalt für die Familie, die er nun hatte als Musiker zu bestreiten. Wo immer er eine Möglichkeit zu erblicken meinte, bewarb er sich, leider immer vergeblich. Dabei beherrschte er neben dem Klavier auch das Spielen auf dem Akkordeon ausgezeichnet. Onkel Paul wollte nicht begreifen, dass er in der Sowjetunion zehn Jahre lang sein Leben mit Musizieren bestreiten hatte können und jetzt dasselbe, daheim in seiner Geburtsstadt Wien nicht möglich sein sollte. Trotz seines großen Repertoires an Unterhaltungsmusik, Schlagern, Wiener Liedern und Operettenmelodien, von dem er vieles auswendig spielte fand er kein Engagement, weder als Alleinunterhalter noch in einer kleinen Band. In seiner von Mal zu Mal größer werdenden Verzweiflung und Enttäuschung wandte er sich eines Tages an die Sowjetische Botschaft in Wien. Dieser Verzweiflungsschritt war von Erfolg gekrönt. Fortan unterrichtete er interessierte Botschaftsangehörige Klavier oder Akkordeon. Er war glücklich und zufrieden, und in der Botschaft schätzte man ihn sehr, weil er auf Russisch unterrichten konnte. Sowie man ihn dort besser kannte bat man ihn, auch bei Anlässen außerhalb der Botschaft musikalische Unterhaltung zu liefern. Nicht nur, dass er dafür sehr gut bezahlt wurde, man sorgte auch bestens für sein leibliches Wohl. Bei Veranstaltungen außerhalb der Botschaft durfte Onkel Paul manchmal Dorothea und die Kinder mitbringen, die dann ebenfalls eingeladen waren, sich am reichlichen Buffet zu bedienen. Fast alles, was Hans und Erika auf den langen Buffet-Tischen an dargebotenen Gerichten erblickten war ihnen fremd. Sie fragten ihre Mutter, ob man dies und jenes wirklich essen könne? Obschon Dorothea und Onkel Paul all die guten Speisen vertraut waren und sie diese bloß lange nicht mehr gegessen hatten, bedienten sich die Kinder nur von dem, was sie kannten. Da konnte selbst die Mutter sie nicht überreden zu probieren. Feierten die in Wien ansässigen Sowjets Weihnachten, dann lief das Fest in einem riesigen Saal der Hofburg ab. Manchmal waren Hans und Erika eingeladen daran teilzunehmen - für beide ein besonderes Erlebnis. Neben den wenigen eingeladenen Erwachsenen war eine Unmenge Kinder anwesend. Mitten im großen, hohen Saal stand eine noch höher scheinende reichlich geschmückte Tanne. Jedem Kind wurde sein Platz an einem der vielen langen Tische zugewiesen, wo ein mit herrlichen kalten Speisen geradezu überladener Teller bereit gestellt war und nur darauf zu warten schien, leergegessen zu werden. Der Höhepunkt solcher Feste war erreicht, sobald der russische Weihnachtsmann „Väterchen Frost" durch eine der vielen in den großen Saal führenden Türen gemächlich herein schritt. Dann wurde es mit einem Mal still und alle harrten in Spannung, was noch kommen würde? Die Kinder ahnten, dass nach dem reichlichen Essen noch Geschenke und Süßigkeiten verteilt würden. Aus vielen zuvor bereit gestellten Säcken sowie einem Jutesack, den er hinter sich her zog holte der Weihnachtsmann Päckchen um Päckchen hervor, und Kind um Kind durfte zu ihm kommen und eines in Empfang nehmen. In diesem Moment war der ganze Saal von unzähligen strahlenden Augenpaaren erfüllt. Als sich hernach die Kinder auf den Heimweg begaben, war ihr Geplapper noch lange hörbar.


Dorothea erzog ihre Kinder so, wie sie ihre eigene Erziehung in einer frei denkenden, assimilierten jüdischen Familie erfahren hatte. Wie sie vor dem Krieg daheim Chanukka und Weihnachten, Pessach und Ostern gefeiert hatten, so wollte sie es mit Hans und Erika halten. Einmal, es war kurz vor Weihnachten - sie vergaß, dass sie im jüdisch geprägten Obdachlosenheim wohnte - kaufte sie eine kleine Fichte als Weihnachtsbaum. Sie nannte das Chanukka-Baum. Bis Weihnachten waren es noch einige Tage, weshalb sie das Bäumchen in den nicht benutzten Keller stellte, auch deshalb, um es als Überraschung vor den Kindern zu verstecken. Aber sie hatte nicht mit der Bosheit von Herrn Breier, dem Tischler, gerechnet, der sie dabei beobachtet hatte. Sobald Dorothea weg war, zersägte er die Fichte und warf dann die Teile in den Keller zurück. Man kann sich die Enttäuschung Dorotheas vorstellen, als die das Bäumchen hervorholen und mit den wenigen Süßigkeiten, die sie sich leisten konnten schmücken wollte - und nur die zersägten Teile vorfand. So wurden die Weihnachtssüßigkeiten nicht vom Baum, sondern aus einer Schachtel verzehrt.

Mit dem Älterwerden kamen Hans immer häufiger die vergangenen Jahre und Zeiten in den Sinn. Er begann, all die Menschen zu bewundern, die dermaßen viel Kraft aufbrachten - wie im besonderen seine Mutter -, die nie verzweifelten und ihrem tristen Lebensalltag kein vorzeitiges Ende bereiteten. Wie viele wurden aus einem behüteten, begüterten und sorglosen Dasein ganz plötzlich, von einen Tag auf den anderen, brutal heraus gerissen? Wie
viele verloren alles ihnen Liebe, Materielle, mit Fleiß, Können und großer Schläue Erworbene, waren mit einem Mal Freiwild geworden und haben dennoch, des Gelingens ungewiss, einen Neuanfang in Angriff genommen? Hans stellte sich die Frage, ob er selbst diese Stärke aufgebracht hätte, wagte sie aber nicht zu beantworten - er fürchtete die Antwort. Bestimmt, und da war er sich sicher, hätte er sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen und auf Gedeih und Verderb gegen Nazideutschland und dessen Sympathisanten angekämpft.

All die Jahre hindurch war weder Hans noch Erika aufgefallen, dass ihre Mutter mit ihnen nie einen Friedhof aufsuchte. Erst später kam ihnen die Erleuchtung, warum nicht. Auf welchen Friedhof hätte ihre Mutter allen ihren dahingemordeten Familienangehörigen die Ehre erweisen sollen? Wo hatte man sie verscharrt oder ihre Asche verstreut? Auch verstanden die Kinder erst später, was die Mutter damit meinte, wenn sie sagte, sie beneide alle Menschen, die sich an einem Grabstein ausweinen können. Der einzige Grabstein, der existiert, ist jener ihres 1940 an der Cholera verstorbenen Bruders Gaston, doch befindet sich dieser auf dem jüdischen Friedhof in Thessaloniki. Wie oft aber reist man von Wien nach Thessaloniki zu einem Friedhofsbesuch?

Hans Gamliel wurde am 25. Dezember 1940 in Subotica nahe der serbisch-ungarischen Grenze in der Vojvodina geboren. Seine Mutter Dorothea (1918 - 1983) stammte väterlicherseits aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie. 1938 war sie vor den Nationalsozialisten mit Eltern, Geschwistern und weiteren Verwandten aus Wien nach Serbien geflüchtet. Dort lebten sie
auseinander gerissen bei verschiedenen serbischen Familien versteckt im Untergrund. Ein Großteil der Familienangehörigen wurde jedoch aufgestöbert, deportiert und in Vernichtungslagern des Dritten Reiches ermordet. 1945 kehrte Dorothea Gamliel mit ihrem Sohn Hans und der um zwei Jahre jüngeren Tochter Erika, dabei vielerlei Hindernisse überwindend, über Umwege nach Wien zurück. Im Obdachlosenheim der Israelitischen Kultusgemeinde im 2. Bezirk fand die Familie für die nächsten Jahre ein Zimmer. Ab Anfang der 1960er Jahre arbeitete Hans aufgrund besserer Berufs-Chancen im Gastgewerbe häufig in der Schweiz, wohin er 1984 nach Grub im Kanton Appenzell Ausserrhoden zu seiner Frau übersiedelt ist und heute noch lebt. Im Gedenken an seine leidgeprüfte Mutter und seine ermordeten Vorfahren schrieb Hans Gamliel in den letzten zehn Jahren seine Familiengeschichte und Kindheitserinnerungen auf. Dabei erzählt er in der dritten Person. Ein Jahr seiner Kindheit, 1948/49, verbrachte er auf Vermittlung der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde bei einer jüdischen Familie in der Stadt Basel
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Teil 5 der Lebensgeschichte von Hans Gamliel folgt in der nächsten Ausgabe des DAVID.

 

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