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Sie wurden Waisen, ehe sie ihre Eltern verloren
Das jüdische Waisenhaus in Pankow als Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung

Ute HÖSCHELE

Es gibt nicht mehr viele Gelegenheiten, achtzig Jahre nach Beginn des NS-Regimes in Deutschland Überlebende des Holocaust zu treffen. Anfang November fanden in Berlin Feierlichkeiten zur Erinnerung an das jüdische Leben in Pankow statt. Im dortigen ehemaligen jüdischen Waisenhaus trafen einander acht betagte Menschen, ehemalige Zöglinge. Ihre Berichte über die Zeit, die sie dort vor nahezu siebzig Jahren als 5- 15-jährige Kinder verbrachten, sind eindringliche Zeugnisse der Verfolgung. Die Überlebenden kamen aus Argentinien angereist, aus Kanada, Israel, England und den USA: Renate Bechar, als Kind des Direktors Kurt Crohn im Waisenhaus aufgewachsen, außerdem Leslie Baruch Brent, Alex Deutsch, Ernst Herbert Farr-Freytag, Günther Goldbarth, Bert Lewyn, Ernst Loewenberg und Salomon Mueller. Heute beherbergt das stattliche Gebäude eine private Grundschule sowie die kommunale Bibliothek und bietet im wunderschönen ehemaligen Betsaal im 2. Stock Raum für kulturelle Aktivitäten. Ende des 19. Jahrhunderts als Heim für elternlose Kinder gegründet, die vor russischen Pogromen aus der Grenzstadt Brody geflüchtet waren, hat das jüdische Waisenhaus eine lange Geschichte. Welche Schicksale jene Kinder erlitten, die dort bis zur Liquidierung des Waisenhauses durch die Nazis im Jahr 1940 gelebt hatten, wird von den anwesenden ehemaligen Zöglingen in eindringlicher und sehr bewegender Weise geschildert, von Geborgenheit und Zuflucht bis hin zu Vertreibung und Tod ihrer Mitschüler und Lehrer sprechen die Erinnerungen. Ihre persönlichen Schicksale im Waisenhaus haben sie in einem Buch festgehalten. Peter Alexis Albrecht, Vorsitzender der heutigen Eigentümerin des ehemaligen Waisenhauses, der Cajewitz Stiftung, Inge Lammel und Leslie Baruch Brent gaben diese Dokumentation heraus. Das Datum der Buchvorstellung, der 9. November 2008, war dem Gedenken an die Pogrome vor 70 Jahren gewidmet. Vor der Präsentation des Buches fand im ehemaligen Betsaal des Waisenhauses eine Feierstunde statt. Hochrangige Persönlichkeiten waren anwesend, unter ihnen der Vizepräsident des deutschen Bundestages Wolfgang Thierse, die Vorsitzende der Aktion Sühnezeichen Pfarrerin Ruth Misselwitz, der Bürgermeister von Pankow Matthias Köhne, und Inge Lammel, die die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Pankow und des Waisenhauses mehrfach akribisch aufgezeichnet hat. Frau Lammel beschrieb in ihrer Rede eindringlich die zerstörerische Chronologie der Novemberpogrome, von den Nazis verharmlosend als „Reichskristallnacht" bezeichnet: „Die Pogrome, in deren Gefolge 20.000 jüdische Menschen inhaftiert und in die KZs Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen verbracht wurden, bleiben ein unauslöschlicher Schandfleck der deutschen Geschichte. 2.000 Menschen wurden ermordet, sämtliche Synagogen in Schutt und Asche gelegt, und die Bevölkerung sah zu." Mit dem untätigen Zusehen der Bevölkerung befasste sich auch Wolfgang Thierse: „ Die unfassbaren Novemberpogrome konnten geschehen, weil niemand dagegen einschritt. Unmenschlichkeit und Unrecht waren kein Phänomen irgendwo, weit weg, sondern es geschah mitten unter uns." Über die Schuld der christlichen Kirchen sprach Pfarrerin Ruth Misselwitz, für die Auschwitz als Synonym für den Holocaust das Kainsmal der christlichen Kirchen darstellt. „Keiner hat damals die Frage gestellt: Kain, wo ist Dein Bruder Abel? Waren denn alle blind und taub?"

Ehemaliges Jüdisches Waisenhaus in Berlin-Pankow

Die acht überlebenden Zöglinge des Waisenhauses wurden durch diese Worte an ihren langen und schweren Weg der Wiederannäherung an dieses Land erinnert, an Berlin und den Platz ihrer Kindheit - einen Ort, am dem die Kindheit für sie jäh geendet hatte. Leslie Baruch Brent sah seine Zeit im Waisenhaus als Vorahnung des Kommenden: „Wir waren keine Waisen im landläufigen Sinn, sondern Kinder, die zu Waisen wurde, noch ehe sie ihre Eltern verloren", sagte er. Seine Eltern Arthur und Charlotte Baruch hatten sich 1936 entschieden, ihren damals elfjährigen Sohn ins Waisenhaus nach Berlin zu schicken. Lothar, wie Leslie damals noch hieß, war in seiner Heimatstadt Köslin in Hinterpommern (heute Koszalin, Polen) vor den Verfolgungen der Nazi-Horden nicht mehr sicher gewesen. Als einziges jüdisches Kind in der Klasse war der tägliche Schulbesuch für ihn zunehmend zur Qual geworden. Angriffe, Übergriffe und Tätlichkeiten hatten es ihm schließlich unmöglich gemacht, den Schulunterricht weiter zu besuchen. Wie er den Wechsel ins Waisenhaus psychisch verkraftete, zeigt sich in der Erinnerung von Leslie Baruch Brent an seine ersten Tage in Pankow: „Ich wurde sehr freundlich aufgenommen, dennoch war es ein großer Schock für mich. Plötzlich lebte ich nicht mehr in einer Familie, sondern in einer Institution." Eine andere Perspektive zeigte Alex Deutsch aus Neunkirchen im Saarland auf, mit 95 Jahren ältester Teilnehmer an diesem Treffen: „Was ich im Waisenhaus erfahren konnte, hat mir wohl auch geholfen, Auschwitz zu überleben" formulierte er. Zwischen diesen beiden Aussagen spannt sich der tragische Bogen der Schicksale von etwa 100 Kindern, die zwischen 1928 und 1940 in diesem Waisenhaus lebten. Wie trügerisch die Sicherheit war, zeichnete sich bereits 1938 ab. Besonders nach den Novemberpogromen suchte die Leitung des Waisenhauses fieberhaft nach Möglichkeiten, die Kinder in Sicherheit zu bringen. Dies gelang nur in einigen wenigen Fällen - durch Kindertransporte, Flucht oder Untertauchen. 1940 liquidierten die Nazis das Waisenhaus, die noch verbliebenen Bewohner wurden deportiert und ermordet. Im Eingang des Hauses hängen Gedenktafeln: Die Namen der 44 Lehrer, Schüler und Beschäftigten des Waisenhauses sind darauf verewigt, die in den Konzentrations- und Vernichtungslagern umgebracht worden sind. Das jüngste Kind war 3 Jahre alt.

Prof. Leslie Baruch Brent, Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, Frau Dr. Inge Lammel bei der Buchpräsentation im Jüdischen Waisenhaus

Ein Ereignis, das als Vorbote für die drohende Gefahr galt, schildert der einzige tatsächliche Waise der Anstalt, Salomon Muller, 1930 als Findelkind aufgenommen: „Wenige Monate vor der Pogromnacht im November 1938 stürmte ein organisierter Nazi-Mob das Waisenhaus und verwüstete die untere Etage, in der sich auch die Schulsynagoge befand. Wir Kinder flüchteten in größter Angst in verschiedene Räume, einige versteckten sich im Dachgeschoss und zitterten dort um ihr Leben. Wie ein Wunder erscheint es, dass durch das beherzte und mutige Auftreten eines einzigen Lehrers, Heinz Nadel (später Harry Harrison) dem zerstörerischen Tun ein Ende bereitet werden konnte. Mit einem kleinen Jungen auf dem Arm stand Heinz Nadel ruhig auf der großen Haupttreppe und forderte die Eindringlinge auf, innezuhalten und das Haus zu verlassen. Sie zogen tatsächlich ab." Danach, und erst recht nach der Pogromnacht vom 9. November, wurde immer deutlicher, dass keines der Kinder dort mehr sicher war. Der Leiter des Waisenhauses, Direktor Crohn, erfuhr von der Möglichkeit, jüdische Kinder nach England zu verschicken. Der erste „Kindertransport sollte Berlin verlassen. Die Leitung des Waisenhauses musste acht Kinder auswählen - mehr wurde ihnen nicht zugestanden -, die zusammen mit einigen hundert anderen Jungen und Mädchen am 1. Dezember 1938 den Zug bestiegen und Deutschland verließen. Am 2. Dezember kamen sie mit dem Schiff in Harwich (England) an, in einer fremden Welt, mit einer ungewissen Zukunft vor Augen. Lothar Baruch war einer jener acht Jungen aus dem Waisenhaus, die für den Kindertransport ausgewählt worden waren. Bevor er Berlin Richtung England verließ, besuchte er ein letztes Mal seine Eltern und seine einzige Schwester Eva Susanne, die inzwischen von Köslin in eine winzige Wohnung nach Berlin umziehen hatten müssen:

„Sie erklärten mir sehr liebevoll, dass ich in England sicher sein würde. Und sie sagten, dass sie versuchen würden, nachzukommen. Aber vermutlich wussten sie damals schon, wie unwahrscheinlich das war. Meine Mutter packte ein kleines Köfferchen für mich und legte einige Familienfotos hinein. Dass ich meine Eltern vielleicht nie mehr wieder sehen würde, dass es ein Abschied für immer sein könnte - das kam mir nicht in den Sinn. Ich habe meinen Eltern einfach vertraut, sie hatten immer mein Bestes gewollt." Nur wenige weitere Zöglinge des Waisenhauses konnten durch spätere Kindertransporte noch gerettet werden. Die Kinder, die nicht gleich von englischen Familien aufgenommen worden waren, wurden in einem leer stehenden Ferienlager in Dovercourt bei London untergebracht, unter ihnen auch Lothar Baruch.

Das Schicksal wollte es, dass Anna Essinger auf ihn aufmerksam wurde: Die engagierte Pädagogin leitete Bunce Court, ein hervorragendes Internat in Kent, und nahm den Jungen auf. Dort erreichte ihn die letzte Postkarte seines Vaters, mit den Worten: „Wir verreisen". Erst kurz nach Kriegsende kehrte Lothar, der inzwischen als Freiwilliger in der Englischen Armee gedient und den Namen Leslie Brent angenommen hatte, als Captain der englischen Armee nach Berlin zurück. Die Suche nach seiner Familie blieb vergeblich, und langsam begriff er das Schreckliche: Seine Schwester und seine Eltern waren nicht mehr am Leben. Zutiefst erschüttert ahnte er, dass sie im Holocaust umgekommen waren. Er kehrte nach London zurück und begann sein Studium, das ihn zu einer hervorragenden wissenschaftlichen Karriere führte. Erst 50 Jahre später stieß der inzwischen weltbekannte Immunologe eher zufällig auf eine konkrete Spur des Schicksals seiner Familie: In einem Berliner Archiv waren die Namen seiner Angehörigen säuberlich notiert. Sie stehen auf einer Liste jener Menschen, die von den Nazis im Herbst 1942 von Berlin nach Riga deportiert und dort sofort nach ihrer Ankunft erschossen waren. Die schreckliche Gewissheit über das Schicksal seiner engsten Familie bewog Leslie Baruch Brent dazu, seinen alten hebräischen Namen Baruch wieder aufzunehmen, als Zeichen des Gedenkens an seine Angehörigen. Er sprach auch über ein Thema, das lange Zeit nicht beachtet worden war: die Schuld der Überlebenden, survivors guilt, und die Schuldgefühle der Nachgeborenen:

„Meine Kontakte zu jungen deutschen Wissenschaftlern haben mich gelehrt, dass viele von Ihnen ebenfalls eine Last, wie meine „Schuld der Überlebenden", mit sich tragen. Es fällt Ihnen schwer, die Beteiligung Ihrer Eltern und Großeltern an der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung zu verarbeiten. Ihre Schuld ist genauso irrational wie meine, wenn nicht noch irrationaler, aber vielleicht noch schwerer zu ertragen als meine."

Damit schlug er eine Brücke zu den heutigen Generationen in Deutschland, die sich mit den Gräueln der Väter und Großväter auseinanderzusetzen haben.

Leslie Brent und Bert Lewyn

Auch am 2. Tag des Treffens in Pankow standen Kinder im Mittelpunkt: Schüler der privaten Grundschule „Pankower Früchtchen", die sich heute im ehemaligen Waisenhaus befindet, führten die Überlebenden durch ihre Schulklassen, luden zum gemeinsamen Mittagessen und führten ein farbenprächtiges Theaterstück auf. In erfrischender Unbefangenheit und kindgemäßer Neugier stellten sie viele Fragen. Besonders Alex Deutsch fand in den Kindern faszinierte Zuhörer. Das verwundert nicht, denn er ist erfahren im Umgang mit Kindern: Unermüdlich ist er in Schulen zu Gast, um gegen Hass, Gewalt, Rassismus und Intoleranz zu predigen. Seine Widmung, die er mir ins Buch geschrieben hat, könnte Motto dieses Pankower Treffens sein: „Nicht die Erinnerung, sondern das Vergessen ist und bleibt die wahre Gefahr." Es ist gut, dass in Berlin auch ein Zeichen der Erinnerung an die Kindertransporte gesetzt wurde. Am 1. Dezember 2008, zum 70. Jahrestag des ersten Kindertransportes, wurde eine von Frank Meissler, einem heute in Israel lebenden Künstler aus Danzig geschaffene Gedenkskulptur am Bahnhof Berlin-Friedrichstrasse eingeweiht. Auch am Westbahnhof in Wien erinnert seit dem Frühjahr 2008 eine Gedenkskulptur an die Kindertransporte aus Wien. Ein Künstler aus Polen, Zdzislaw Pacholski, sprach nach dem Treffen in Pankow aus, was viele Teilnehmer der zweitägigen Veranstaltung in Berlin empfunden hatten: „Eigentlich bin ich beschämt, die Feierstunde mit der Gedenkveranstaltung zu den Pogromen war sehr schwer und bedrückend für mich. Der Rundgang durch die Schulräume heute und das Zusammensein mit den Schülern aber war angenehm und ist mir viel leichter gefallen. Kinder sind doch ein Zeichen der Hoffnung"

Die Kinder des 1. Kindertransportes im Zug, 2.12.1938; in der Mitte oben eingekreist Lothar Baruch ( Leslie Baruch Brent)

Nachwort:

Ich wurde 1948 in Deutschland geboren und lebe nach längerem Frankreichaufenthalt seit 1978 mit meiner Familie in Österreich. Seit den 70er Jahren bin ich gemeinsam mit meinem Mann Hans Georg für den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge tätig, daneben arbeite ich als freie Autorin. Da meine Eltern aus Köslin stammen, besuchte ich vor einigen Jahren diese Stadt in Polen, die heute Koszalin heißt. Durch Zufall lernte ich dort Zdzislaw Pacholski kennen, einen polnischen Künstler und Kunstfotografen. Die Geschichte dieser außergewöhnlichen Begegnung und der sich daraus entwickelnden Freundschaft wurde im Hörspiel der polnischen Redakteurin Jolantha Rudnik, Im Schatten des guten Baumes, aufgezeichnet und 2006 mit dem gesamtpolnischen Hörspielpreis ausgezeichnet. Pacholski, der in Polen bereits in den 1990-er Jahren in verschiedenen Städten die Anne-Frank-Ausstellung gezeigt hatte, erinnert gemeinsam mit dem Theologen und katholischen Pfarrer Henry Romanik in seiner Heimatstadt Koszalin mit den Marches of Memory jedes Jahr an die Wiederkehr der Novemberpogrome. Bei seinen Recherchen zur jüdischen Vergangenheit von Koszalin stieß Pacholski auf die Geschichte von Leslie Baruch Brent. Er suchte die Verbindung, die sich mittlerweile zu einem lebhaften Briefkontakt ausgeweitet hat. Dies scheint mir ein ermutigendes Beispiel für die möglichen Kontakte im schwierigen und angespannten Verhältnis zwischen Österreichern, Deutschen, Polen und Juden zu sein.

Literaturhinweise:

Verstörte Kindheiten - Das Jüdische Waisenhaus in Pankow als Ort der Zuflucht, Geborgenheit und Vertreibung, hg. v. Peter-Alexis Albrecht/ Leslie Baruch Brent/ Inge Lammel, Schriftenreihe der Cajewitz-Stiftung Bd. 1, BMV- Berliner Wissenschaftsverlag 2008

Anja Salewsky, Der olle Hitler soll sterben, Erinnerungen an den jüdischen Kindertransport nach England, List Taschenbuch 2002

Leslie Baruch Brent, Sunday’s Child? A Memoir, Autobiografie, Bank House Books, East Grinstead, UK 2009; dt. Leslie Baruch Brent, Sonntagskind? Erinnerungen, (Erscheinen geplant 2009)

Jonathan Harris/ Deborah Oppenheimer, Into the Arms of a Stranger, Dokumentarfilm, 2002; dt. Jonathan Harris und Deborah Oppenheimer, Kindertransporte - In eine fremde Welt, Dokumentarfilm, 2000.

Fotos: U.Höschele.

 

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