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Pessach
Walter
ROTHSCHILD
Ich bin nie wirklich versklavt gewesen. Einmal hatte ich
eine Hypothek, ein andermal eine Ehefrau, sicher wurde ich von ein paar
unangenehmen Arbeitgebern gemobbt, Kinder habe ich noch - also, Pflichten
und Verantwortung kenne ich aber, mit allem politisch unkorrekten Respekt:
Echte Sklaverei war das nicht. Heißt das, ich bin stattdessen frei gewesen?
Nein, das heißt es auch nicht, oder nicht ganz. Denn wie bereits erwähnt,
ich hatte immer Pflichten - zu lernen, in der Schule, an der Universität, im
Rabbinerseminar; mein Brot zu verdienen und meine Familie zu ernähren, die
Hypothek oder Miete zu bezahlen, Steuern, Versicherungen, alles, was eine
Familie braucht. Ich hatte und habe Verpflichtungen gegenüber meinen Eltern,
und als normaler Bürger. Sogar als Haustierbesitzer hat man diverse
Pflichten, weil man die Verantwortung für ein anderes Lebewesen trägt. Und
gegenüber mir selbst? Mein Körper, meine Gesundheit, mein persönliches
Wachstum und meine persönliche Entwicklung als Mensch, als Rabbiner? Also -
für mich ist nichts absolut, alles ist relativ gewesen. Bisher.
Glücklicherweise.
Ich kenne aber Menschen, die im Arbeitslager oder
schlimmer versklavt waren. Die ohne irgendwelche Rechte waren, nicht einmal
das Recht hatten, weiter leben zu können. Dann sieht die Welt völlig anders
aus. Alles ist begrenzt - der Bereich, in dem man umhergehen darf, die Zeit,
die man für alles hat, die Zeit, die vor einem liegt. Ich kenne Menschen,
die jahrzehntelang in den Ost-Diktaturen gelebt haben. Für sie konnte jedes
Wort, jeder Witz, jede andere Meinung gefährlich werden, jeder Brief aus dem
Westen. Bespitzelung und Betrug gehörten zum Alltag, Menschen verschwanden
hinter Mauern und Gittern.
Das Problem beschäftigt mich jedes Mal, wenn ich die
Worte lese: "Wir waren in Ägypten versklavt" oder "Wir waren Knechte in
Ägypten" oder "Ich bin der Gott, der Euch aus der Knechtschaft befreit hat".
Was heißt das eigentlich, wie kann ich das selbst spüren? Am eigenen Leib
und in der eigenen Seele? Pessach ist jene Zeit, zu der ich darüber
besonders intensiv nachdenken soll. Ein Fest, nicht nur des Frühlings und
der Natur, sondern auch der Befreiung.
Während des Pessach-Seders zeigen wir symbolisch beides,
sowohl Sklaverei, als auch Freiheit. Das eine damit, was wir essen, das
andere damit, wie wir essen. Was essen wir? Hartes, trockenes Brot - das
Brot der Armut; Bitterkraut, den bitteren Geschmack von Leid und
Unterdrückung; Salzwasser, die Tränen der Unterdrückten; sogar symbolischen
Ton und Zement und Leim, mit denen man Backsteine machen kann und daraus
Gebäude, Lagerhallen, Pyramiden. Und wie essen wir?
In Ruhe, zurückgelehnt, auf Kissen. Wir nehmen uns Zeit, wir sitzen rund um
einen Tisch wie freie Menschen. Wir nehmen uns Zeit,
die Geschichte noch einmal durchzulesen, die Psalmen zu singen, ein paar
Lieder dazu. Das Ganze dauert nicht lange - oder, besser gesagt, es muss
nicht allzu lange dauern - aber wir sind frei, selbst zu entscheiden.
Und jede und jeder der Anwesenden darf seine eigenen,
persönlichen Geschichten dazu beitragen, die eigenen Erfahrungen von
Befreiung erzählen. ‘Maggid’ heißt ‘Erzählen’, nicht
nur ‘Lesen’. Es gibt dafür viele Möglichkeiten, und
sie müssen nicht immer melodramatisch sein. Man kann von einer Schuldenlast
befreit sein, von einer Schule, in der man nicht glücklich war, von einer
Beziehung, in der man sich erpresst oder bedrängt gefühlt, von einem Job,
der in einer Sackgasse geführt, von einer Krankheit, die für einige Zeit das
Leben bedroht oder bitter und schmerzhaft gemacht hat, von einer Sucht oder
Obsession. Befreiung kann viele Formen annehmen.
Wichtig beim Seder ist nicht, dass man das allerbeste,
größte und teuerste kulinarische Erlebnis des Jahres genießen kann - es geht
darum, dass man überhaupt etwas genießen kann. Darum, dass wir noch hier
sind, am Leben, frei: frei, zurückzublicken und unsere Geschichte mit
anderen zu diskutieren, zu lernen, an die nächste Generation weiterzugeben.
Die Pessach-Geschichte kann man auf drei Ebenen erzählen.
Die erste wie es in der Torah steht, im Buch Exodus, Kapitel 1 bis 15, wo
die Nachkommen Jakobs als ethnische Minderheit in Ägypten eine
‘Sonderbehandlung’ erhielten und Jahre, Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte
lang leiden mussten; die dritte - wie schon erwähnt - im Sinne persönlicher
Erfahrungen und des Gefühls, selbst befreit zu sein. Die zweite Ebene ist
der Weg der Haggadah, und hier gibt es merkwürdige Abweichungen und
Änderungen. Die ‘Pessach-Haggadah’ ist keine Erzählung der Bibelgeschichte,
wie man anfangs vielleicht erwarten könnte, sie geht viel tiefer. Wie tief?
Wie üblich versuche ich Texte nach bestimmten
Auslegungsprinzipien zu verstehen. Eines davon ist: Was nicht im Text steht,
ist genau so wichtig wie das, was man dort findet. Und was fehlt? Zu aller
erst, das muss man sagen: der Mann Moses. Der Mann, der in der
Exodus-Geschichte eine zentrale Rolle spielt, wird in der Haggadah überhaupt
nicht erwähnt. (Es gibt ein Lied am Ende, ‘Mi Adir’, in dem ‘Ben-Amram’
vorkommt, aber das ist die einzige, und unwichtige, Ausnahme.) Im ‘Maggid’
Teil, der Narrativerzählung, dem echten Kern der Haggadah (was vorher kommt,
sind nur Vorbereitungen und Vorspeisen, danach kommen nur Tischgebete,
andere Abendgebete und Kinderlieder) lesen wir von Israeliten und Plagen und
Rabbinern - aber nicht von Moses. Merkwürdig. Daraus soll man etwas lernen
können. Aber was?
Und was haben wir stattdessen? Kindische
Übertreibungsspiele, in denen die Rabbiner miteinander wetten, wie viele
Plagen man aus ein paar Sätzen herausholen kann? Die Beschreibung eines
‘All-Night’ Seders in B’nei Berak? Was hat das für uns zu bedeuten?
Ich sehe hier einen Geheimcode. Nicht alle Rätsel sind
einfach zu lösen, aber im Prinzip geht es irgendwie so: Die ‘Haggadah
schel Pessach’ hat mit Vergangenheit wenig zu tun, und sicher kaum mit
der Vergangenheit, die im Buch Schemot beschrieben wird. Stattdessen
wiederspiegelt sie eine andere Geschichte - und lenkt von dort den Blick
nach vorne.
Das bedeutet, die Befreiungsgeschichte wird erzählt, als
ob sie sich nur in der Vergangenheit abspielte, während aber aktuelle,
gegenwärtige Zeiten damit gemeint sind. Das laut und klar zu sagen wäre,
milde ausgedrückt, unvernünftig in einer Zeit, in der Spione und Spitzel,
Geheimpolizei und allerlei Feinde alles ihnen Verdächtige erlauschen und
notieren könnten. Gegen eine Erzählung von ‘damals’ - und die Bibel war doch
bekannt - konnten die Feinde nicht so hart vorgehen; daraus aber sollten die
Teilnehmer Hoffnung für ihre eigenen schweren Zeiten schöpfen, Hoffnung
sogar für die Zukunft - um nächstes Jahr, frei, in Jerusalem zu sein.
Die Rabbiner, die in den Texten genannt werden, lebten
zur Zeit der römischen Besatzung. Genauer gesagt, sie lebten in der Zeit
zwischen der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 d.Z. und dem
endgültigen Aus nach dem Bar-Kochba- Aufstand gegen Hadrian in den Jahren
132-135 d.Z. Das waren schwierige, dunkle Zeiten. Viele hofften auf eine
Rückkehr der jüdischen Selbstbestimmungs- und Unabhängigkeitsrechte, auf
einen Wiederaufbau all dessen, was verloren gegangen war - Monarchie,
Priesterschaft, Tempelritus. Viele hofften auf einen Messias, einen
Auserwählten, der alle retten konnte. Von Rabbi Akiwa ben Josef erfahren
wir, dass er sich entschied, Shimon ‘Bar-Kochba’ (oder eigentlich Bar-Kosiba)
zu unterstützen und als Gesalbten zum Retter des Volkes zu ernennen, zum
Messias. Und das Resultat war eine Katastrophe ohne Ende.
Die Rabbiner, von denen wir lesen, diskutierten die ganze
Nacht durch, was es bedeute, in ‘Tag und Nacht’ zu leben - sowohl in guten
als auch schlechten, dunklen Zeiten. Sie versuchten wahrscheinlich, die
Zeichen der Zeit zu lesen: ob es sich lohnen würde, etwas gegen die Römer zu
unternehmen. Und dann kamen ihre ‘Schüler’, die sie drängten, mit diesen
Debatten aufzuhören, weil es, wie sie sagten, "an der Zeit war, die Einheit
Gottes zu proklamieren" - das ‘Schema’ hat hier eine politische, und
nicht nur liturgische Bedeutung. Und vielleicht lernen wir daraus, wie
gefährlich es sein kann, wenn nicht die intellektuellen Führungskräfte mit
ihren Perspektiven und ihrer Erfahrung, sondern junge Menschen auf der
Strasse alles bestimmen können. Die Menge, sogar der Mob, statt ihrer
Lehrer. Junge Menschen sind immer so ungeduldig.
Und vielleicht sollen wir auch lernen, dass ein Mann, ein
normaler, sterblicher Mann, nicht die Antwort ist. Auch wenn andere das
behaupten - sei es ein politischer Führer aus der modernen Geschichte, sei
es ein ‘Menschensohn Gottes’ aus Nazareth, der alles heilen und erlösen
soll. Kein Mann, kein Bote, nicht einmal ein Engel, sondern Gott Allein soll
das Volk retten. Nach der Überlieferung starben plötzlich 24.000 von Akivas
‘Schülern’. (Talmud Jevamot 62b) Die Rabbiner reden von einer ‘Krankheit’,
aber das ist wahrscheinlich eine Tarnung für mehrere militärische
Niederlagen gegen die Soldaten Hadrians - und er selber starb den
Märtyrertod im römischen Zirkus, mit den Worten des Schema auf den
Lippen. (Talmud Berachot 61b)
Was sollte man sonst noch daraus lernen? Auch in dunklen
Zeiten soll man nicht alle Hoffnung verlieren. Gott hat uns einmal ganz
allein gerettet; Gott kann es wieder tun. Aber auf die Hoffnung auf einen
falschen Messias soll man verzichten! Die Haggadah kann man also als anti-
messianistisches Buch lesen.
Die Haggadah redet von den Vier Kindern - nicht alle
können alles verstehen, es gibt die Klugen, jene, die sich dagegen stellen,
jene, die nur einen einfachen Text verstehen können, und sogar jene, die
keine Fragen haben. Alle gehören nichtsdestoweniger rund um den Seder-Tisch
zusammen. Jeder hat etwas zu sagen, etwas zu lernen. Auch wir, egal, in
welcher Kategorie wir uns befinden!
Schalom,
Landesrabbiner Walter Rothschild.
Walter Rothschild ist Rabbiner der liberalen jüdischen Gemeinde ‘Or
Chadasch’ in Wien.
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